Die Postfrau zog fröstelnd ihre warme Mütze tiefer ins Gesicht und
gähnte müde, als sie an diesem Samstagvormittag bei Werner Hilbert klingelte.
"Ein Paket für Sie", rief sie vom Gartentor aus dem älteren Mann zu,
der seine Haustür nur einen Spalt öffnete. Etwas neugierig war die
Mittvierzigerin schon. Herr Hilbert bekam nie Pakete, auch keine Briefe oder
Ansichtskarten mit Urlaubsgrüßen. Wenn überhaupt, dann steckte sie lediglich
Rechnungen in seinen Briefkasten. Aber ein Mal im Jahr, immer zu Weihnachten,
fischte sie auch für Werner Hilbert einen Brief aus der braunen Kiste, die
neben ihr auf dem Beifahrersitz ihres Postautos stand. Die Stadtverwaltung
hatte den ehemaligen Bürgermeister dieses Stadtteiles anscheinend nicht
vergessen.
Auch manche Bewohner erinnerten sich noch gut an die Amtszeit von
Herrn Hilbert, der nicht verhindern konnte, dass im Jahr 1992 die alte Mühle
abgerissen wurde. Er war schon immer ein Einzelgänger gewesen und wurde im
Alter immer mürrischer. Hatte er für die
Vereine stets ein offenes Ohr, hielt er sich diese jedoch fest zu, wenn er
Kinder sah. Herr Hilbert mochte keine Kinder, weder große noch kleine. Und weil
die Kinder das wussten, hatten sie oft Klingelstreiche an seinem Gartentor
gemacht oder laut vor seinem Haus gesungen "Es klappert die Mühle am
rauschenden Bach - klipp klapp, klipp, klapp, klipp klapp". Doch
inzwischen waren diese Kinder selbst erwachsen und wohnten schon lange nicht
mehr hier am Mühlengrund. Eigentlich mochte Werner Hilbert niemanden. Er war am
liebsten für sich.
Vor wenigen Wochen war das Nachbarhaus frei geworden und er hatte
sich gewünscht, dass es so bliebe. Doch dann kam dieses junge Paar, schaute
sich das Haus an - und blieb. Zu allem Übel würde bald ein Baby mit seinem
Geschrei die Ruhe stören. Nein, das war nichts für Werner Hilbert. Als der
junge Mann aus dem Nachbarhaus dann auch noch den Storch aus Pappe am Giebel
befestigte, schüttelte der alte Mann den Kopf. "So ein Zirkus",
brummte er vor sich hin, anstatt dem jungen Vater einen Glückwunsch zuzurufen.
Doch als der ehemalige Bürgermeister die junge Frau kurze Zeit
später das erste Mal aus der Nähe erblickte, ihr Lächeln sah, da zuckte
plötzlich etwas in seinem Inneren. Die Art, wie sie sich bewegte, ihr von Natur
aus hellblondes Haar, und wie sie beim Sprechen ihren Kopf leicht zur Seite
neigte; all das erinnerte ihn an seine erste und einzige große Liebe, auch wenn
diese nur eine kurze Zeit Teil seines Lebens war.
Herr Hilbert nahm der Postfrau das Paket ab und schloss schnell die
Tür hinter sich. Fröstelnd goss er einen zweiten löslichen Kaffee auf und
freute sich darauf, das Paket bald zu
öffnen. Er hatte vor drei Tagen erstmalig etwas online bestellt, und nun
wartete der Kaffeeautomat darauf ausgepackt und installiert zu werden. Sein
Blick wanderte vom Küchentisch, auf dem das Paket stand, zum Fenster. Es war
kalt und die Straße vor dem Haus glatt. Mühsam war es der Postfrau gelungen,
das gelbe Postauto zu starten und auf der glatten Straße hinten vor dem Bach zu
wenden. Von der anderen Seite kam seine neue Nachbarin, die ihren Kinderwagen
vor sich herschob und dem Baby zulachte.
Dann geschah es - sie rutschte aus und fiel hin. Die junge Frau kam
nicht wieder hoch und hielt sich den Knöchel am rechten Fuß. Herr Hilbert griff
nach seiner Jacke und stürmte hinaus. Er half ihr hoch, sie stütze sich auf ihn
und griff in ihre Manteltasche, doch das Handy lag wohl noch zu Hause, sie
hatte es vergessen. "Ob ich wohl bei Ihnen telefonieren kann?",
fragte sie den alten Mann, mit dem sie noch nie zuvor länger gesprochen hatte.
Das Baby schrie. Gemeinsam erreichten sie die Haustür - humpelnd, stützend und
schreiend. Die junge Frau nahm ihre kleine Tochter aus dem Wagen, drückte sie
kurz an sich und übergab das weinende Bündel ihrem Nachbarn. Dann griff sie zum
Telefon.
Vergessen war der Kaffeeautomat! Werner Hilbert hatte zum ersten
Mal in seinem Leben ein Baby auf dem Arm. Anfangs hatte es noch geweint, doch
als er es unbeholfen in seinen linken Arm legte, wurde das kleine Mädchen
still. Die beiden blickten sich an. Die Kleine hatte die gleichen grünen Augen
wie ihre Mama. Es war ein besonderer Moment, von dem der kinderlose Mann niemals
erwartet hätte, so etwas zu erleben. Diese Gefühle kamen völlig unerwartet für
ihn. Er spürte eine ihm unbekannte Wärme in sich, eine Verbindung zu den zwei
ihm fremden Menschen in seiner Küche.
"Ich bin Sophie und das ist Luise", flüsterte die junge
Frau. "Mein Mann wird gleich herkommen und uns abholen. Dürfen wir bei
Ihnen im Warmen auf ihn warten?", bat sie. Herr Hilbert blickte sie an,
dann wieder zu der kleinen Luise, von dort zu dem Paket und dann wieder zu
Sophie. Er nickte.
Und so kam es, dass Werner Hilbert den 2. Advent nicht allein
verbrachte. Jacob bediente den Kaffeeautomaten, den er noch am Tag zuvor
installiert hatte. Sophies bandagierter Fuß ruhte hochgelegt auf einem weichen Kissen,
während sie die Stolle aufschnitt, die ihre Eltern am Wochenende zuvor
mitgebracht hatten. Und die kleine Luise? Die schlief mit sich und der Welt
zufrieden im Arm von Werner Hilbert.
Auf dem Küchentisch lag, neben dem Adventskranz mit den zwei brennenden
Kerzen, ein aufgeschlagenes Fotoalbum mit alten Bildern, auf denen die Mühle zu
sehen war, die dieser kleinen Straße den Namen gegeben und um die der ehemalige
Bürgermeister mit so viel Engagement vergebens gekämpft hatte.
Ende
Ach, wie schön! Man wünschte sich viele so schöne Momente von menschlichem Miteinander im realen Leben. Aber die Geschichten von Ihnen, liebe Frau Keller, machen es möglich. Danke dafür, dass Sie dieses Licht für uns am 2. Advent angezündet haben.
AntwortenLöschenLiebe Grüße Christel P.
Sehr gern und vielen Dank für ihren Ihren freundlichen Kommentar. Lassen wir das zweite Licht leuchten und wirken. Ich wünsche Ihnen einen gemütlichen 2. Advent.
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