Das zweite Haus - Weihnachten 2025

 


Die Postfrau zog fröstelnd ihre warme Mütze tiefer ins Gesicht und gähnte müde, als sie an diesem Samstagvormittag bei Werner Hilbert klingelte. "Ein Paket für Sie", rief sie vom Gartentor aus dem älteren Mann zu, der seine Haustür nur einen Spalt öffnete. Etwas neugierig war die Mittvierzigerin schon. Herr Hilbert bekam nie Pakete, auch keine Briefe oder Ansichtskarten mit Urlaubsgrüßen. Wenn überhaupt, dann steckte sie lediglich Rechnungen in seinen Briefkasten. Aber ein Mal im Jahr, immer zu Weihnachten, fischte sie auch für Werner Hilbert einen Brief aus der braunen Kiste, die neben ihr auf dem Beifahrersitz ihres Postautos stand. Die Stadtverwaltung hatte den ehemaligen Bürgermeister dieses Stadtteiles anscheinend nicht vergessen.

 Auch manche Bewohner erinnerten sich noch gut an die Amtszeit von Herrn Hilbert, der nicht verhindern konnte, dass im Jahr 1992 die alte Mühle abgerissen wurde. Er war schon immer ein Einzelgänger gewesen und wurde im Alter immer mürrischer.  Hatte er für die Vereine stets ein offenes Ohr, hielt er sich diese jedoch fest zu, wenn er Kinder sah. Herr Hilbert mochte keine Kinder, weder große noch kleine. Und weil die Kinder das wussten, hatten sie oft Klingelstreiche an seinem Gartentor gemacht oder laut vor seinem Haus gesungen "Es klappert die Mühle am rauschenden Bach - klipp klapp, klipp, klapp, klipp klapp". Doch inzwischen waren diese Kinder selbst erwachsen und wohnten schon lange nicht mehr hier am Mühlengrund. Eigentlich mochte Werner Hilbert niemanden. Er war am liebsten für sich.

Vor wenigen Wochen war das Nachbarhaus frei geworden und er hatte sich gewünscht, dass es so bliebe. Doch dann kam dieses junge Paar, schaute sich das Haus an - und blieb. Zu allem Übel würde bald ein Baby mit seinem Geschrei die Ruhe stören. Nein, das war nichts für Werner Hilbert. Als der junge Mann aus dem Nachbarhaus dann auch noch den Storch aus Pappe am Giebel befestigte, schüttelte der alte Mann den Kopf. "So ein Zirkus", brummte er vor sich hin, anstatt dem jungen Vater einen Glückwunsch zuzurufen.

 Doch als der ehemalige Bürgermeister die junge Frau kurze Zeit später das erste Mal aus der Nähe erblickte, ihr Lächeln sah, da zuckte plötzlich etwas in seinem Inneren. Die Art, wie sie sich bewegte, ihr von Natur aus hellblondes Haar, und wie sie beim Sprechen ihren Kopf leicht zur Seite neigte; all das erinnerte ihn an seine erste und einzige große Liebe, auch wenn diese nur eine kurze Zeit Teil seines Lebens war.

 Herr Hilbert nahm der Postfrau das Paket ab und schloss schnell die Tür hinter sich. Fröstelnd goss er einen zweiten löslichen Kaffee auf und freute  sich darauf, das Paket bald zu öffnen. Er hatte vor drei Tagen erstmalig etwas online bestellt, und nun wartete der Kaffeeautomat darauf ausgepackt und installiert zu werden. Sein Blick wanderte vom Küchentisch, auf dem das Paket stand, zum Fenster. Es war kalt und die Straße vor dem Haus glatt. Mühsam war es der Postfrau gelungen, das gelbe Postauto zu starten und auf der glatten Straße hinten vor dem Bach zu wenden. Von der anderen Seite kam seine neue Nachbarin, die ihren Kinderwagen vor sich herschob und dem Baby zulachte.

 Dann geschah es - sie rutschte aus und fiel hin. Die junge Frau kam nicht wieder hoch und hielt sich den Knöchel am rechten Fuß. Herr Hilbert griff nach seiner Jacke und stürmte hinaus. Er half ihr hoch, sie stütze sich auf ihn und griff in ihre Manteltasche, doch das Handy lag wohl noch zu Hause, sie hatte es vergessen. "Ob ich wohl bei Ihnen telefonieren kann?", fragte sie den alten Mann, mit dem sie noch nie zuvor länger gesprochen hatte. Das Baby schrie. Gemeinsam erreichten sie die Haustür - humpelnd, stützend und schreiend. Die junge Frau nahm ihre kleine Tochter aus dem Wagen, drückte sie kurz an sich und übergab das weinende Bündel ihrem Nachbarn. Dann griff sie zum Telefon.

 Vergessen war der Kaffeeautomat! Werner Hilbert hatte zum ersten Mal in seinem Leben ein Baby auf dem Arm. Anfangs hatte es noch geweint, doch als er es unbeholfen in seinen linken Arm legte, wurde das kleine Mädchen still. Die beiden blickten sich an. Die Kleine hatte die gleichen grünen Augen wie ihre Mama. Es war ein besonderer Moment, von dem der kinderlose Mann niemals erwartet hätte, so etwas zu erleben. Diese Gefühle kamen völlig unerwartet für ihn. Er spürte eine ihm unbekannte Wärme in sich, eine Verbindung zu den zwei ihm fremden Menschen in seiner Küche.

 "Ich bin Sophie und das ist Luise", flüsterte die junge Frau. "Mein Mann wird gleich herkommen und uns abholen. Dürfen wir bei Ihnen im Warmen auf ihn warten?", bat sie. Herr Hilbert blickte sie an, dann wieder zu der kleinen Luise, von dort zu dem Paket und dann wieder zu Sophie. Er nickte.

 Und so kam es, dass Werner Hilbert den 2. Advent nicht allein verbrachte. Jacob bediente den Kaffeeautomaten, den er noch am Tag zuvor installiert hatte. Sophies bandagierter Fuß ruhte hochgelegt auf einem weichen Kissen, während sie die Stolle aufschnitt, die ihre Eltern am Wochenende zuvor mitgebracht hatten. Und die kleine Luise? Die schlief mit sich und der Welt zufrieden im Arm von Werner Hilbert.

 Auf dem Küchentisch lag, neben dem Adventskranz mit den zwei brennenden Kerzen, ein aufgeschlagenes Fotoalbum mit alten Bildern, auf denen die Mühle zu sehen war, die dieser kleinen Straße den Namen gegeben und um die der ehemalige Bürgermeister mit so viel Engagement vergebens gekämpft hatte.

 

Ende

Kommentare

  1. Ach, wie schön! Man wünschte sich viele so schöne Momente von menschlichem Miteinander im realen Leben. Aber die Geschichten von Ihnen, liebe Frau Keller, machen es möglich. Danke dafür, dass Sie dieses Licht für uns am 2. Advent angezündet haben.
    Liebe Grüße Christel P.

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    1. Sehr gern und vielen Dank für ihren Ihren freundlichen Kommentar. Lassen wir das zweite Licht leuchten und wirken. Ich wünsche Ihnen einen gemütlichen 2. Advent.

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