Das dritte Haus - Weihnachten 2025



Lutz Latschkowski lag auf dem Sofa und hielt Mittagsschlaf. Seine Wangen blähten sich auf und fielen beim Ausatmen wieder in sich zusammen. Genauso wie seine Wangen, war auch sein Bauch aufgebläht, nur das dieser beim Ausatmen nicht weniger wurde. Als er aufwachte, rieb er sich die Augen. Plötzlich knackte es. Ein Knopf seines Hemdes riss ab und flog durch die Luft. Als der Knopf in der Obstschale landete, tönte ein blechernes Geräusch.

 "So geht es nicht weiter, ich muss mehr für mich tun!", sprach er zu sich selbst und schob sich ein weiteres Weihnachtsplätzchen in den Mund, das so herrlich nach Butter und Haselnüssen schmeckte. Dann stand er auf, schlüpfte in seine Pantoffeln und schlurfte ins Bad. Der Zeiger der Waage zitterte und brauchte eine Weile, ehe er zum Stillstand kam. "Hm", seufzte er wieder, ging durch das Haus und öffnete die Kellertür.

 Unter dem Wohnzimmer existierte ein anderes Reich - das des jungen Lutz Latschkowski. Als er den Lichtschalter betätigte und die Deckenlampe den Raum erhellte, glänzten unzählige Medaillen an den Wänden. Er sah sich als jungen schlanken Mann auf den Fotos daneben - Lutz Latschkowski, der mehrfache Olympiasieger im Eiskunstlaufen. Er nahm eines der vielen Paar Schlittschuhe in die Hand und ging wieder nach oben ins Wohnzimmer.

 Die Weihnachtsmusik aus dem Radio begleitete seine Erinnerungen an die Zeit seines Ruhmes, während die Kufen der Schlittschuhe in seinen Händen warm wurden. Alle hatte er sie persönlich kennengelernt - Katharina Witt, Norbert Schramm, Brian Boitano und Jayne Torvill mit Christopher Dean. Es war eine glanzvolle Zeit. Doch hier, als Rentner am Mühlengrund, war er einfach nur Lutz Latschkowski, im letzten Haus vor der einst alten Mühle, auf der rechten Straßenseite. Die Weihnachtspyramide drehte sich auf dem Couchtisch und Lutz träumte mit offenen Augen.

Zu den ersten Klängen des Weihnachtslieds "Leise rieselt der Schnee" ging er zum Fenster. Es fielen erneut Flocken vom Himmel, seit Tagen war es kalt. Er löschte die drei Kerzen am Adventskranz und an der Weihnachtspyramide, zog sich danach seine Jacke über, nahm den Schneeschieber und befreite den Fußweg vor seinem Haus vom Schnee. Dabei nickte er Werner Hilbert zu, dem ehemaligen Bürgermeister, dessen Nase schon ganz rot gefroren war; dafür lag keine Flocke mehr vor dessen Haus. Als es Lutz Latschkowski unter der Wollmütze am Kopf kratzte, nahm er sie ab. Er sah zum zugefrorenen Mühlteich, auf dem sich einige Kinder mit Schlittschuhen tummelten. Wieder versank er in seinen Erinnerungen. 'Ob ich es noch kann?', fragte er sich.

 Am Abend hörte es auf zu schneien. Es war still am Teich. Herr Latschkowski öffnete seine quietschende Gartentür und ging an einem Schneemann vorbei, den die Kinder noch am Nachmittag gebaut hatten. Der Topf auf seinem Kopf saß schief und es wirkte, als würde der Schneemann lächeln. Bestimmt saßen die Kinder inzwischen in den warmen Wohnzimmern bei ihren Familien.

Der viele Schnee hatte die Dunkelheit verdrängt und es herrschte eine ganz besondere Stimmung. Lutz Latschkowski stand mit seinen Schlittschuhen in der Hand an der Böschung. "Gelernt ist gelernt!", sagte er zu sich selbst und machte sich damit Mut. Er drückte auf die Taste seines alten CD-Players, zog die Schlittschuhe über seine Füße, den warmen Pullover über seinem Bauch straff, und betrat vorsichtig das Eis. Es würde ihn halten, das wusste er. Aber konnte er noch Schlittschuh laufen, ohne hinzufallen? Tatsächlich, es ging.

 Er bewegte sich langsam zur Musik. Einzig die Sterne am Himmel sahen ihm zu - "Stille Nacht, heilige Nacht. Alles schläft ....". Lutz Latschkowski war in diesem Moment einfach nur glücklich. Er hatte sich selbst sein schönstes Weihnachtsgeschenk gemacht. Wen er in diesem Moment jedoch nicht wahrnahm, war sein linker Nachbar. Der ehemalige Bürgermeister kam, mit einer weihnachtlichen Metalldose in den Händen, direkt auf den Mühlteich zu.

 

Ende

 

 

 

 

  

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