"Und wo soll hier eine Mühle sein? Jetzt fahr doch mal
langsam!", ermahnte Frau Reuter ihren Mann und putzte sich zum
wiederholten Mal die Nase. "Pass du lieber auf, dass du nachher das Baby
nicht ansteckst!", antwortete Herr Reuter genervt. Die beiden waren von
der langen Fahrt müde und gereizt. Zwischendurch hatte Schneetreiben
eingesetzt, sodass sie nur langsam vorwärtskamen.
"Ich verstehe noch immer nicht, warum die Kinder hierherziehen
mussten, dabei ist es bei uns in der Großstadt doch so schön. Naja. Und die
Stolle, hast du an die Stolle von Bäcker Tritsche gedacht? Wenigstens etwas,
damit die Kinder sich hier wie zu Hause fühlen!", nörgelte Frau Reuter
weiter.
Einige Minuten später bog das Ehepaar in den Mühlengrund ein. Ein
Schild gleich am Anfang der Straße deutete darauf hin, dass es sich um eine
Sackgasse handelte. Durch die Frontscheibe sahen sie nur die vier
Einfamilienhäuser mit den großen Gärten; alles war von Schnee bedeckt.
Gleich am ersten Haus auf der linken Straßenseite erblickten sie
einen Storch am Giebel. Aus Pappe ausgeschnitten, trug dieser eine rosafarbene
Decke mit einem Baby darin im Schnabel. Frau Reuter lächelte das erste Mal an
diesem Tag. Als beide vor dem Haus ihres Sohnes und der Schwiegertochter
anhielten, und aus dem vollbepackten Auto stiegen, spürten sie es zur gleichen
Zeit - es hing nichts in der Luft, rein gar nichts. Keine Autoabgase, kein
Quietschen der Straßenbahn, absolute Stille und klare, frische Luft.
"Die Kleine sieht dir ja gar nicht ähnlich, Jacob! Sie kommt
ja ganz nach Sophie", waren die ersten Worte, die Frau Reuter sprach, als
sie in Stubenwagen blickte. "Ich bin froh, dass sie jetzt schläft, sie
weint sehr viel", flüsterte Sophie leise. "Kannst du denn Stillen?
Machst du das richtig?". Sophie ging in die Küche und bereitete ein
Fläschchen für Luise vor.
"Mutter, musste das jetzt sein?", fragte Jacob. Herr
Reuter ging nah an seinem Sohn vorbei, tätschelte Jacobs Schulter und murmelte
nur: "Mein Junge".
Nach dem Abendessen zeigte Jacob seinen Eltern das Gästezimmer,
während Sophie den Tisch abräumte. "Ihr habt sogar ein Gästezimmer? Nun
ja. Schön. Aber das Haus ist schon sehr groß. Könnt ihr denn die Heizkosten
aufbringen?", fragte ihn seine Mutter, öffnete das Fenster und schnaubte
in ein frisches Taschentuch.
In dieser Nacht schlief Sophie tiefer als sonst und wachte erst am
Morgen auf. Ängstlich lief sie ins
Kinderzimmer. Hatte sie ihre kleine Tochter nicht weinen hören? "Luise hat
Jacobs Augen. Gestern habe ich sie nur schlafend gesehen und ihr vorhin bereits
ein Fläschchen gegeben", sagte Luises Oma lächelnd. Sophie glaubte es
kaum. Was war geschehen? Ihre kleine Tochter blickte die Oma mit großen Augen
an. Hatte sie deren Herz geöffnet?
Nach dem Frühstück gingen alle gemeinsam spazieren. Frau Reuter
ließ es sich nicht nehmen den Kinderwagen durch den Schnee zu schieben. Ihr
gefielen die drei anderen Häuser auch. "Wisst ihr wer hier noch
wohnt?". "Noch haben wir nicht alle richtig persönlich kennenlernen
können. Bei uns gegenüber wohnt ein Rentner, der war früher hier Bürgermeister
und hat die Mühle noch kennengelernt. Daneben wohnt ein Mann, dessen Namen ich
immer wieder vergesse und neben uns wohnt unsere Zahnärztin", erklärte
Jacob.
Die Straße endete am Mühlteich. "Junge, wo war denn nun hier
die Mühle?", fragte Jacobs Vater. Kurz darauf entdeckte er die
Informationstafel, die zwischen zwei Bäumen an einer Stele befestigt war.
Während die Familie die Geschichte vom Mühlgrund erfuhr, durchbrach
am Himmel über ihnen das Schreien einer Gruppe Kraniche die Ruhe.
"Kraniche? Hier, bei euch? Im Winter?", äußerte Frau Reuter
überrascht. "Ja", antwortete Sophie. "Deshalb haben wir uns
diesen Ort ausgesucht. Ich bin als Kind auch mit Kranichen in der Umgebung
aufgewachsen und Jacob wollte den Krach der Großstadt nicht mehr hören".
Am Nachmittag zündete Sophie die erste Kerze am Adventskranz an.
Gemeinsam ließen sich alle die leckere Stolle schmecken, die, und zwei weitere,
Jacobs Eltern von ihrem Bäcker mitgebracht hatten.
Als sich Jacobs Eltern später zur Nachtruhe in das Gästezimmer
zurückzogen, schlief Herr Reuter gleich ein. Sein leises Schnarchen begleitete
die Gedanken seiner Frau. Frau Reuter begann sich hier wohlzufühlen. Die kleine
Luise hatte ihr Herz erobert. Sie war gespannt darauf, wie sich die Natur am
Mühlteich und in den Gärten hier am Mühlengrund im Sommer verändern würde - und
sie freute sich auf die Kraniche, so wie Sophie.
Ende
Hallo Henriette, wie immer sehr schön, danke. Ich habe dabei richtig die frische Luft gerochen.
AntwortenLöschenDas freut mich. Habt einen schönen 1. Advent und liebe Grüße an alle.
AntwortenLöschenDem kann ich nur beipflichten, liebe Henriette. Eine schöne Einstimming auf den ersten Advent. Vielen Danke
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