Das erste Haus - Weihnachten 2025

 


"Und wo soll hier eine Mühle sein? Jetzt fahr doch mal langsam!", ermahnte Frau Reuter ihren Mann und putzte sich zum wiederholten Mal die Nase. "Pass du lieber auf, dass du nachher das Baby nicht ansteckst!", antwortete Herr Reuter genervt. Die beiden waren von der langen Fahrt müde und gereizt. Zwischendurch hatte Schneetreiben eingesetzt, sodass sie nur langsam vorwärtskamen.

 "Ich verstehe noch immer nicht, warum die Kinder hierherziehen mussten, dabei ist es bei uns in der Großstadt doch so schön. Naja. Und die Stolle, hast du an die Stolle von Bäcker Tritsche gedacht? Wenigstens etwas, damit die Kinder sich hier wie zu Hause fühlen!", nörgelte Frau Reuter weiter.

Einige Minuten später bog das Ehepaar in den Mühlengrund ein. Ein Schild gleich am Anfang der Straße deutete darauf hin, dass es sich um eine Sackgasse handelte. Durch die Frontscheibe sahen sie nur die vier Einfamilienhäuser mit den großen Gärten; alles war von Schnee bedeckt.

 Gleich am ersten Haus auf der linken Straßenseite erblickten sie einen Storch am Giebel. Aus Pappe ausgeschnitten, trug dieser eine rosafarbene Decke mit einem Baby darin im Schnabel. Frau Reuter lächelte das erste Mal an diesem Tag. Als beide vor dem Haus ihres Sohnes und der Schwiegertochter anhielten, und aus dem vollbepackten Auto stiegen, spürten sie es zur gleichen Zeit - es hing nichts in der Luft, rein gar nichts. Keine Autoabgase, kein Quietschen der Straßenbahn, absolute Stille und klare, frische Luft.

 "Die Kleine sieht dir ja gar nicht ähnlich, Jacob! Sie kommt ja ganz nach Sophie", waren die ersten Worte, die Frau Reuter sprach, als sie in Stubenwagen blickte. "Ich bin froh, dass sie jetzt schläft, sie weint sehr viel", flüsterte Sophie leise. "Kannst du denn Stillen? Machst du das richtig?". Sophie ging in die Küche und bereitete ein Fläschchen für Luise vor.

 "Mutter, musste das jetzt sein?", fragte Jacob. Herr Reuter ging nah an seinem Sohn vorbei, tätschelte Jacobs Schulter und murmelte nur: "Mein Junge".

 Nach dem Abendessen zeigte Jacob seinen Eltern das Gästezimmer, während Sophie den Tisch abräumte. "Ihr habt sogar ein Gästezimmer? Nun ja. Schön. Aber das Haus ist schon sehr groß. Könnt ihr denn die Heizkosten aufbringen?", fragte ihn seine Mutter, öffnete das Fenster und schnaubte in ein frisches Taschentuch.

 In dieser Nacht schlief Sophie tiefer als sonst und wachte erst am Morgen auf.  Ängstlich lief sie ins Kinderzimmer. Hatte sie ihre kleine Tochter nicht weinen hören? "Luise hat Jacobs Augen. Gestern habe ich sie nur schlafend gesehen und ihr vorhin bereits ein Fläschchen gegeben", sagte Luises Oma lächelnd. Sophie glaubte es kaum. Was war geschehen? Ihre kleine Tochter blickte die Oma mit großen Augen an. Hatte sie deren Herz geöffnet?

Nach dem Frühstück gingen alle gemeinsam spazieren. Frau Reuter ließ es sich nicht nehmen den Kinderwagen durch den Schnee zu schieben. Ihr gefielen die drei anderen Häuser auch. "Wisst ihr wer hier noch wohnt?". "Noch haben wir nicht alle richtig persönlich kennenlernen können. Bei uns gegenüber wohnt ein Rentner, der war früher hier Bürgermeister und hat die Mühle noch kennengelernt. Daneben wohnt ein Mann, dessen Namen ich immer wieder vergesse und neben uns wohnt unsere Zahnärztin", erklärte Jacob.

Die Straße endete am Mühlteich. "Junge, wo war denn nun hier die Mühle?", fragte Jacobs Vater. Kurz darauf entdeckte er die Informationstafel, die zwischen zwei Bäumen an einer Stele befestigt war.

Während die Familie die Geschichte vom Mühlgrund erfuhr, durchbrach am Himmel über ihnen das Schreien einer Gruppe Kraniche die Ruhe. "Kraniche? Hier, bei euch? Im Winter?", äußerte Frau Reuter überrascht. "Ja", antwortete Sophie. "Deshalb haben wir uns diesen Ort ausgesucht. Ich bin als Kind auch mit Kranichen in der Umgebung aufgewachsen und Jacob wollte den Krach der Großstadt nicht mehr hören".

 Am Nachmittag zündete Sophie die erste Kerze am Adventskranz an. Gemeinsam ließen sich alle die leckere Stolle schmecken, die, und zwei weitere, Jacobs Eltern von ihrem Bäcker mitgebracht hatten.

Als sich Jacobs Eltern später zur Nachtruhe in das Gästezimmer zurückzogen, schlief Herr Reuter gleich ein. Sein leises Schnarchen begleitete die Gedanken seiner Frau. Frau Reuter begann sich hier wohlzufühlen. Die kleine Luise hatte ihr Herz erobert. Sie war gespannt darauf, wie sich die Natur am Mühlteich und in den Gärten hier am Mühlengrund im Sommer verändern würde - und sie freute sich auf die Kraniche, so wie Sophie.

 

Ende

Kommentare

  1. Hallo Henriette, wie immer sehr schön, danke. Ich habe dabei richtig die frische Luft gerochen.

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  2. Das freut mich. Habt einen schönen 1. Advent und liebe Grüße an alle.

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  3. Dem kann ich nur beipflichten, liebe Henriette. Eine schöne Einstimming auf den ersten Advent. Vielen Danke

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