Tisch Nummer 18



Prolog


Es war mehr schwarz als grau in diesem verlassenen Trakt der ehemaligen Rehaklinik. "Ann-Kathrin, gib mir mal deine Taschenlampe", sagte Matthias. Kurz leuchtete das Licht auf sein Shirt. ICH KENNE DA EINE ABKÜRZUNG stand quer über seiner Brust. Dann fiel der Strahl zu der einst modernen Einrichtung des Zimmers. "Hier war früher anscheinend die Verwaltung untergebracht. Guckt mal, hier steht noch eine Kaffeetasse", flüsterte er. "Ich glaub's ja nicht! Unfassbar!", antwortete Franziska, die in einer alten Patientenakte blätterte. "Und ich krieg jedes Mal wegen des Datenschutzes eins auf den Deckel, wenn ich vergesse einen Namen zu schwärzen", knurrte sie vor sich hin. John, der sich vorsichtig zu ihnen bewegte, hörte plötzlich ein Geräusch und kurz darauf einen Schrei.  Er schaute sich nach den anderen um. Zu Acht hatten sie sich auf den Weg durch den Wald hierher gemacht. Sogar Beate war mitgekommen, obwohl ihr Knie heftig schmerzte. 

Am Ende des Flures standen Romy und Judith.  Sie zittern vor Angst. "Wir haben eine Leiche  gefunden", riefen die beiden John, Matthias und Franziska zu. "Wo sind  die anderen? Wir müssen zusammenbleiben!". "Wir sind hier, John!", flüsterten Beate und Cordula, die aus einem anderen Zimmer herbeigeeilt kamen. Ann-Kristin ging vorsichtig an ihnen vorbei. Wenige Schritte vor ihr lagen ein Schädel und die dazugehörigen verstaubten Knochen, die zum Teil verstreut neben einem Schreibtisch lagen. Sie bückte sich. Doch dann erklang Ann-Kristins stets herrlich ansteckendes Lachen. " Moin, ihr Pappnasen, das war ein Anschauungsskelett, vermutlich ist dies hier das ehemalige Arztzimmer eines Orthopäden". Alle atmeten erleichtert auf. "Ich glaube, Reki hilft dem jetzt nicht mehr", witzelte Cordula.

Plötzlich wurde es hinter der Gruppe hell. "Hier ist der Wachschutz! Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?", fragte eine tiefe Stimme. Die Gruppe blinzelte in das grelle Licht der Taschenlampen von zwei uniformierten Männern.

*

Vier Wochen zuvor hatte sich die Gruppe an einem anderen Ort kennengelernt. Es war ebenfalls in einer Rehaklinik, im Speisesaal, am Tisch Nummer 18, der Platz für acht Patienten bot. Eine streng wirkende Dame vom Service führte die Männer und Frauen, die zwar aus verschiedenen Regionen Deutschlands kamen, aber im gleichen Alter waren, an diesen Tisch. Es dauerte nicht lange bis sie mit Esprit gemeinsam ihre Mahlzeiten einnahmen, sich kennenlernten, über ihre Erkrankungen sprachen, sich bezüglich der vielen Anwendungen austauschten und bald oft die Freizeit miteinander verbrachten. John, der mit einem speziellen Akzent sprach, antwortete stets auf die Frage, woher denn seine Wurzeln stammen, dass er Brite sei. 

Nach ungefähr zehn Tagen lag in jedem Postfach der Gruppe ein Zettel, auf denen die Patienten ihre Wünsche äußern durften. John und Matthias notierten in der Rubrik Ergotherapie einen Motorsägenkurs, Franziska ergänzte bei der Ernährungsberatung "Wie lebe ich im Einklang mit Heidelbeeren?" und Cordula wollte einen Reki - Kurs anbieten. Ann-Kathrin hatte die Idee bei der Freizeitgestaltung aus Kriminalromanen der gleichnamigen Kommissarin Ann-Kathrin Klaasen vorzulesen. Beate wünschte sich, dem Koch über die Schultern gucken zu dürfen, Judith wollte statt des Flechtens von Brotkörben lieber eine weitere Stadtführung, aber im schnellen preussischen Stechschritt, auch zu Lost Places in der Umgebung. Und Romy hatte die Idee, eine E-Bike Gruppe zu gründen.

Kurzum, zwei Tage später wurde die Gruppe, die sich inzwischen "Tisch 18" nannte, zum Direktor der Rehaklinik eingeladen. Gemeinsam mit dem Chefarzt, der Oberschwester, je einer Mitarbeiterin von der Ergotherapie, der Ernährungsberatung, einem Physiotherapeuten und dem Hausmeister arbeitete die Gruppe ein neues Angebot für alle Patienten aus. "Sind Sie eigentlich Engländer oder Schotte?", fragte der Direktor John. Der atmete tief ein und antwortete höflich, dass er gebürtiger Brite sei.

Der Direktor hatte schon lange vor Neues auszuprobieren und bat seine Sekretärin alles Nötige in die Wege zu leiten. Nur die Lost Places Tour erschienen ihm zu gefährlich, die wurden gestrichen.

Wenige Tage später knatterten drei Kettensägen. "Aber nicht die Bäume im Kurpark ......!", waren jeweils die Worte des Hausmeisters. Für diesen Kurs wurden extra kleinere Stämme Totholz geliefert. Zum Frühstück erweiterte  leckere Heidelbeermarmelade das Angebot und neue Rezepte, mit Heidelbeeren als Zutat, lagen am Eingang zum Speisesaal aus. Beate half dem Koch, trug inzwischen eine Schürze und freute sich über die Komplimente der anderen Patienten, die sich mit Genuss das Essen schmecken ließen. Die E-Bike Gruppe blieb auch ohne Verluste - nur der Stadtführer wirkte vom schnellen preussischen Stechschritt zeitweise sehr kurzatmig. Und immer mehr, überwiegend männliche Patienten,  rochen dezent nach Kettensägenöl. Kurzum, alle knapp 150 Patienten freuten sich über das erweiterte Angebot auf ihren Behandlungsplänen.

Matthias und Judith regten allerdings noch an, die Wegweiser zu überarbeiten. Die Gehstrecken zu den verschiedenen Zielen in der Umgebung, waren überall jeweils mit 2,3 Kilometern beschriftet, was zu Verwirrungen führte. Nachdem sich die Gruppe an einem Samstagnachmittag verlaufen hatte, konnten sie zum Glück auf einem nahen Campingplatz ihren Hunger und Durst stillen. Insgesamt waren sie irrtümlich zwölf Kilometer gewandert, stellte Matthias fest, als er am Abend auf einer Karte nachschaute.

Ansonsten schienen alle Patienten, bis auf ihre körperlichen Erkrankungen, glücklich zu sein. Alle erholten sich, manche bauten Muskulatur auf oder gar Fett ab und besprachen mit dem Chefarzt ihre berufliche Zukunft. Nach den Anwendungen gingen sie in den nahen Kurpark, bummelten durch das Städtchen oder machten eine Pause in einem der vielen Cafés. So verging die Zeit. Einzig die Führung zu einem besonderen Lost Place fehlte noch.

Als alle Mitglieder der Gruppe "Tisch 18" ihre Koffer für die Abreise fertig gepackt hatten, besprachen sie beim Abendessen ihren geheimen Plan. Mit dem neunten Glockenschlag der nahen Kirchturmuhr setzte sich die Gruppe in Bewegung und durchquerte das Waldstück, um zu der verlassenen Rehaklinik zu gelangen und ihre Neugier zu stillen.




Epilog

"Nun nehmen Sie doch die Hände herunter, wir sind nicht beim Polizeiruf oder Tatort ", ertönte die Stimme des einen Wachmanns.  John erklärte die Situation, während er in ein Snickers biss. Dabei blickte auf die Uhr und meinte, dass es ohnehin Zeit für den Rückweg wäre.

"Sie wissen schon, dass ein Snickers 240 Kalorien hat? Ich weiß das, meine Frau hat mich auf Diät gesetzt. Und sagen Sie mal, sind sie Amerikaner oder Engländer?". "Er ist Brite!", rief die Gruppe gemeinsam und alle lachten. Ann-Kathrin knuffte John grinsend in die Seite: "Hab ich dir doch die ganze Zeit gesagt - 240 Kalorien. Dafür musst du morgen früh aber nochmal auf das Fahrradergometer". John seufzte, er freute sich auf sein Zuhause.


Ende


PS: Diese herrliche Geschichte könnte überall in Deutschland spielen, Rehakliniken gibt es etliche. Einiges in dieser Geschichte habe ich wirklich erlebt, vieles ist meiner Fantasie entsprungen.  Aber eines stimmt tatsächlich - ich habe tolle Menschen dort kennengelernt. 

Kommentare

Kommentar veröffentlichen