"Kleines Glück" ganz groß

 


Das Eckhaus, vor dem sie stand, war schätzungsweise zu Beginn des 19. Jahrhundert errichtet worden. Die Balkone, groß genug, darauf zu frühstücken oder am Abend ein Glas Wein in der Abendsonne zu trinken, fügten sich harmonisch in das Bild der Straße ein. An deren schmiedeeisernen Geländern hingen Balkonkästen, die liebevoll von den Bewohnern bepflanzt worden waren. Alle Häuser waren vom gleichen Stil, ohne Zerstörung im 2. Weltkrieg und daher gab es keine Lückenbebauung. Die hohen Linden entlang der Straße waren ebenfalls alt; mit mächtigen Kronen und dicken Stämmen. Das Eckhaus beherbergte in der unteren Etage ein Antik Café. Die Fahrräder davor standen kreuz und quer. Manche waren angeschlossen, manche nicht.

Die Frau auf der anderen Straßenseite trug einen hellen Sommermantel. Ihre 47 Jahre sah man ihr kaum an. Sie blickte auf ihre Armbanduhr, die weder ihre Schrittzahl anzeigte noch diverse gesundheitliche Daten ihres Körpers. 'Ich habe noch etwas Zeit', dachte Juliette. Ihr Blick fiel auf das Straßenschild über ihr; Rue du petit bonher - Straße des kleinen Glücks. Diese Gegend gefiel ihr immer mehr, vielleicht war die Idee vom Land nach Paris zu ziehen, und genau hier eine Wohnung zu suchen, doch gar nicht so verkehrt.

Sie eilte über die Straße und blickte durch das große Fenster rechts neben der Tür. Oberhalb der Scheibe prangten Butzenscheiben mit kleinen Rechtecken aus Milchglas. Die Pilaster am Fensterrahmen waren aus Holz und in einem warmen Grün gestrichen. Juliette fühlte sich angezogen und öffnete die Eingangstür des Cafés. Bekannte Jazzmusik, etwas leiser als das Stimmengewirr, empfing sie, als sie sich an einen Tisch am Fenster setzte. So konnte sie nach rechts zu den Linden am Straßenrand blicken und nach links zur Einrichtung des Cafés und den anderen Gästen.

Der Tag war wärmer geworden als gedacht. Daher entschied sich Juliette gegen einen heißen Tee. Sie beobachtete den jungen Mann an der Bar, wie er frische Zitronenlimonade zubereitete und dabei bedächtig Zitronen in Scheiben schnitt. Anschließen ließ er kaltes Wasser über ein Bund frische Melisse laufen und zupfte danach einzelne Blätter für die Limonade ab. Wenig später stand ein hohes Kristallglas vor ihr auf dem Tisch. Die Eiswürfel darin schwangen jedes Mal aneinander, wenn Juliette von der Limonade trank. Sie beobachte weiterhin den Barmann, der gekonnt die jeweils bestellten Getränke zubereitete. Dabei konzentrierte sie sich, welche Farbe ihn umgab, doch die einzige Farbe, die sie wahrnahm, war das Gelb der Zitronen.

Wenige Minuten später schien dieses Gelb auf den jungen Mann überzugehen. Juliette lächelte. Sie hatte sich als Kind mit ihrer Farb-Synästhesie schwergetan, damals gab es noch keine Bezeichnung für die Wahrnehmung von Farben. Erst später, als sie davon in einem Journal gelesen hatte, erklärte sich ihre Wahrnehmung.

Gelassen schaute Juliette nochmals auf die Zeiger ihrer Uhr, sie hatte noch eine Stunde Zeit bis zum Treffen mit dem Makler. Vom Tisch hinter ihr erklang ein heiteres Lachen. Sie blickte in einen großen Wandspiegel, der ihr die Situation hinter ihrem Tisch zeigte. Drei junge Frauen saßen in bester Stimmung beieinander, erhoben ihre Gläser und lachten erneut. Ihr Lachen war herzlich und steckte die anderen Gäste an. Von der jungen Frau, die mit dem Rücken zu Juliette saß, ging eine Wärme aus, die sie zugleich in ein sanftes Orange hüllte.

Sie überlegte eine Kleinigkeit zu essen und griff nach der Karte. Leise summte sie zur Jazzmusik und entschied sich für ein Käsebaguette. Als Juliette wieder aufblickte, atmete sie laut aus. Die junge Frau vom Tisch hinter ihr war aufgestanden. "Eine letzte Runde, Mädels, ich werde gleich abgeholt, okay?". Nun konnte Juliette deren Gesicht im Wandspiegel erkennen. Die Stimme, der Gang auf dem Weg an Juliette vorbei, weiter zur Bar. War das möglich?

Juliette erhob sich, sah ihr nach und blieb einem Moment lang stehen, bis die junge Frau mit drei Gläsern zurückkehrte. Die Zeit blieb beinahe ebenfalls stehen und der Sekundenzeiger schien lauter zu ticken als die Jazzmusik spielte. Erst das Zerspringen des Kristalls von Juliettes Limonadenglas auf dem Fußboden löste diesen eingefrorenen Moment auf – dazu der Barmann, der mit Handfeger und Schippe auf sie zusteuerte und dann das Gesicht der jungen Frau.

 "Bitte entschuldigen Sie, heißt ihre Mutter Chloè?", fragte Juliette und nestelte dabei an ihrer weißen Stoffserviette. Noch bevor die junge Frau antworten konnte, öffnete sich die Eingangstür des Cafés und es schien Juliette, als ob plötzlich in der Bar die Abendsonne untergehen würde. Solch ein intensives Orange hatte Juliette nur bei einem Menschen gesehen - und das war viele, viele Jahre her.

Die junge Frau schaute zuerst zu ihrer Mama, dann zu Juliette und wieder zurück. Wie ähnlich sich diese Frauen sahen. Chloè hatte sich als erste gefasst. "Wie ich sehe hast du meine Tochter bereits kennengelernt?", hörte Juliette ihre Schwester lächelnd sagen, die sie seit neunzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.

 

 

Ende Teil 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kommentare