Das eingefrorene Glück


Annette sah die roten Lichter der Leuchtreklame schon von weitem. Wie jeden Morgen zählte sie ab der großen Eiche, die zu dieser Jahreszeit keine Blätter mehr trug, bis siebzig; und rollte kurz danach auf den Mitarbeiterparkplatz des Supermarktes. Es war ein typischer Samstagmorgen. Am Abend würde sie sich mit ihren Freunden treffen. Flink tippte sie in die WhatsApp Gruppe ihres Handys "Ich freue mich auf heute Abend", dann eilte sie über den Parkplatz zu ihrer Kollegin Julia, die bereits auf Annette wartete.


"Weißt du, was ich mir wünschen würde; dass jeden Samstag immer 18 Uhr Feierabend wäre! Ich bin so froh, dass wir heute Frühschicht haben", begrüßte Julia ihre Lieblingskollegin. "Und ich hätte gern jeden Samstag frei", lachte Annette und schloss die riesige Glastür auf. Schon bald durchzog der Duft von frischen Brötchen den ganzen Supermarkt und die ersten Kunden kamen zu ihr an den Backstand.

Der Tag verging im Nu. Annette bediente freundliche aber auch maulige Kunden, kleine Naschkatzen, die bei ihren Müttern vorn im Einkaufswagen saßen, die nette Frau Nieswand mit ihrem Rollator; und auch der ältere Herr Kirsten kam, der bis vor kurzem noch gemeinsam mit seiner Frau Kuchen für das Wochenende gekauft hatte, nun aber nur noch ein Stück für sich selbst aussuchte. Für jeden hatte Annette ein freundliches Wort und kam so mit den Kunden ins Gespräch, während sie Brötchen in Papiertüten legte, Brote halbierte oder vorsichtig Kuchenstücke verpackte.

"Ein Salamibrötchen wie immer?", rief Annette dem Fahrer des LKW's zu, der die Getränke für den Supermarkt lieferte. "Ich hoffe, ich habe noch Glück und der Schnee setzt erst am Abend ein!", nuschelte der Mann kurz darauf mit vollem Mund, ohne seinen Blick von der Zeitung zu heben. Annette sah durch das große Fenster den noch blauen Himmel über dem vollen Parkplatz. Die Zeit verging. Beim ersten Blick auf die Uhr war es bereits Mittag, beim zweiten Blick konnte sie die Minuten bis zum Feierabend zählen.

Als Annette in ihrem Auto nach Hause fuhr, begann es zu schneien. Sie freute sich auf den Abend. Michael, der wie jede Woche dienstlich unterwegs war und nur an den Wochenenden nach Hause kam, wartete bereits auf seine Frau. Am Abend füllte sich die Wohnung der beiden - mit Freunden, mit Lachen und gutem Essen, alle brachten etwas Leckeres mit. Es wurde ein harmonischer Abend. Irgendwann sprachen die Freunde, die sich schon lange kannten, darüber, was denn für jeden das ganz persönliche Glück sei.

"Wäre es nicht schön, wenn wir das Glück einfrieren könnten, wie in einem Zip-Beutel, dessen Reißverschluss man immer wieder öffnen kann?", fragte Annika, deren Tochter in diesem Jahr heiraten würde. Roland, der seinen alten, kranken Vater pflegte und oft an ihn als fürsorglichen Vater seiner Kindheit dachte, nickte. Katja und Sven, die nach vielen Jahren harter Arbeit ihre kleine Firma aufgaben, freuten sich nun auf eine große Reise; sie würden sicher viele Zip-Beutel brauchen. Michael, der mit einer Flasche Wein aus der Küche kam, sagte, dass er sich wünsche, mehr am Glück der Familie teilhaben zu können. Annette beobachtete Sabine, die ihren Bernd anschaute, und war sich nicht sicher, was dieser Blick bedeutete. Dann stand Sabine auf und sagte in die Runde: "Ich möchte am liebsten das Glück des heutigen Tages in einem Zip-Beutel einfrieren. Wir haben nämlich vorhin erfahren, dass wir Großeltern werden!". Die Freunde erhoben ihre Gläser und stießen auf das Glück eines jeden am Tisch an.

Nachdem sich die Freunde auf den Heimweg gemacht hatten, schauten  Michael und Annette dem Schneetreiben vom Fenster aus zu. Annette dachte an den Lieferanten, dessen Glück es heute war, noch vor dem Schnee nach Hause zu kommen. Sie sah all die Menschen vor sich, denen sie heute Brot, Brötchen und Kuchen verkauft und die ihr von ihrem Glück erzählt hatten.

Und dann kam der glückliche Moment, den Annette gern einfrieren würde. Michael erzählte ihr freudig, dass er das Angebot einer Firma annehmen und künftig hier vor Ort arbeiten würde.


Ende

Kommentare

  1. Ihre Geschichten, liebe Henriette, machen Freude, wie auch diese. Danke

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen