Heiligabend bei Familie Trautzsch




Was für ein Weihnachtstag! Edeltraut lag nach all dem Chaos in ihrem Bett und wartete. Ihr großer Zeh war geschwollen und puckerte. Und das, obwohl sie alles so gut vorbereitet hatte. Wer hätte gedacht, dass sie alle bei so viel Durcheinander doch noch gemeinsam "Stille Nacht, heilige Nacht" singen würden. Dabei hatte rückblickend alles so entspannt begonnen.

*

Es war am Morgen des 24. Dezember. Edeltraut, schon länger wach, lauschte dem leisen Schnarchen ihres Mannes, sein gleichmäßiges "Hrrrrrrrrrrrr pchchchch" tönte mit dem Ticken des Weckers um die Wette. In wenigen Tagen würde das Jahr zu Ende und sie selbst mit großen Schritten auf ihrem 70. Geburtstag zu gehen. Wo waren nur all die Jahre geblieben? Edeltraut Trautzsch, in jeder Hinsicht eine robuste Frau, sowohl körperlich als auch mental, schien jeder Lebenslage gewachsen, hatte das Herz am rechten Fleck und auf der Waage einige Kilo zu viel. Ihr üppiger Busen war noch in Form und wenn sie lachte, steckte sie jeden mit ihrer jugendlichen Art an.

In zwei Stunden würde ihr Sohn mit seiner Familie anreisen. Robert, spät Vater geworden, hatte Edeltraut und Herbert erst vor zwölf Jahren zu Großeltern gemacht, dafür dann gleich drei Jahre nacheinander. In Gedanken ging sie noch einmal die Weihnachtsvorbereitngen durch; hatte sie an alles gedacht? Da fiel es ihr ein! Die silberne Spitze des Weihnachtsbaumschmuckes fehlte noch. Die hatte sie überall im Haus gesucht und nicht gefunden. Mit Schwung schlug sie ihre Bettdecke zurück und ging leichtfüßig ins Bad.

Der Frühstückstisch war längst gedeckt und Herbert inzwischen ausgekühlt, nachdem zum dritten Mal am Gartentor nachgeschaut hatte, ob er vielleicht das Auto schon sehen würde. Endlich klingelte es an der Tür Sturm.

Robert, seine Jana und ihre drei Kinder begrüßten Oma und Opa. Hungrig setzten sich alle an den großen Tisch in der gemütlichen Küche und griffen beherzt zu.

Nach der zweiten Tasse Kaffee fragte  Robert, warum es in diesem Jahr keine Stolle geben würde. Edeltraut sah ihren Sohn an, Herbert seine Edeltraut; und als es genau in diesem Moment erneut klingelte, sahen alle zur Tür. "Guten Morgen, Frau Trautzsch. Hier ist ein Paket für Sie. Allerdings sind sie auch der Absender. Tut mir leid! Frohe Weihnachten!", meinte der Postbote und schon war er wieder fort.

Überrascht trug Frau Trautzsch das an ihren Sohn adressierte Paket in die Küche und stellte es ab. Der Blick auf den Paketzettel bestätigte die Aussage des Postboten. Es fehlten die Postleitzahl und die Stadt des Empfängers. "Oh nein, das glaube ich jetzt nicht!", flüsterte sie und erinnerte sich an den Tag, als Herbert das Paket zur Post bringen sollte - der viele Schnee, die wenige Zeit und der zu kurze Faden, den Herbert ihr gereicht hatte, um das Paket fest zu verschnüren. In all dem Trubel hatte sie den Paketschein nicht richtig ausgefüllt. Also würde es zum Kaffee zwei Stollen geben. Robert freute sich und rieb sich vergnügt den Bauch.

Noch nahm Edeltraut es mit Humor und knetete wenig später energisch die Klöße. Als es wieder an der Tür klingelte, war Herbert schneller und verschwand; mit ihm allerdings auch der Rest der Familie, so dass Edeltraut mit ihren beschmierten Händen an das Telefon gehen musste, als auch dieses klingelte. Auf dem Weg zum Telefontischchen trat sie jedoch in die Scherbe einer Weihnachtsbaumkugel, die wohl abgefallen sein musste. Bis zum Telefon schaffte sie es nicht, das Blut floss aus der kleinen Schnittwunde ihres großen Zeh. Edeltraut humpelte zurück in die Küche und suchte nach einem Taschentuch.

"Warum gehst du denn nicht ans Telefon?", fragte Herbert verblüfft, als er zur Tür hereinkam. Und Robert, der ihn begleitete, murmelte beiläufig, dass ein Festnetzanschluss sowieso völlig überholt sei. Edeltraut holte tief Luft. "Warst du mit dem Hund draußen?", fragte sie, mit einem Pflaster in der linken und einer Schere in der rechten Hand, sah aber im selben Moment, dass Gustel unter dem Küchentisch lag und sie ebenfalls beobachtete.

Dann wurde es ruhiger und alles verlief zu Edeltrauts Zufriedenheit - bis zur Bescherung. Alle bestaunten den geschmückten Weihnachtsbaum, allerdings noch immer ohne die silberne Spitze, die Edeltraut nun nicht mehr gefunden hatte. Zuerst packten die Kinder ihre Geschenke aus, dann Robert und seine Jana.

Viele "Oh's" und "Ah's" später entschuldigte sich Herbert, ging kurz in den Flur und kam geheimnisvoll lächelnd wieder zurück ins Wohnzimmer.  Im Arm hielt er eine Art Stoffbeutel oder Decke. 'Na hoffentlich nicht wieder ein Bügeleisen oder so was', dachte Edeltraut, deren Zeh immer mehr  anschwoll. Aber Edeltrauts Geschenk war kein Bügeleisen sondern etwas anderes, das ebenfalls Wärme erzeugte. Mit einem "Miau" bewegte sich der Stoff in Herberts Arm und hervor kam eine kleine rote Katze. "Edeltraut, frohe Weihnachten!", hörte sie ihren Herbert feierlich sagen. Gebannt schauten alle zu Edeltraut Trautzsch, die sich daraufhin langsam erhob, Herbert vorsichtig die Katze aus dem Arm nahm und glücklich lächelte. Was für eine Freude!

Während sich die Katze auf Edeltrauts Schoss kuschelte, griff nun Herbert nach seinem Weihnachtsgeschenk. Habe ich jemals erwähnt, dass Herbert Trautzsch Trompeten sammelt? Als nach etlichen Jahren der Ehe seine Schwäche für Edeltraut nachließ, begann er stattdessen für diese Musikinstrumente zu schwärmen. Bereits fünf Trompeten lagerten ordentlich verstaut in der Garage. Einmal im Monat holte er sie dort aus dem Schrank und polierte die Instrumente. Er befühlte das kühle Metall, spielte mit den Ventilen und versuchte der jeweiligen Trompete einen Ton zu entlocken, auch wenn er darauf keine Melodie spielen konnte - Herbert Trautzsch, der weder singen, noch Noten lesen und auch nicht tanzen konnte.

Edeltraut war im Spätsommer mit Helga übers Wochenende verreist,  bei einem Trödler fündig geworden und mit einer sechsten Trompete für Herbert nach Hause gekommen, wo sie das Instrument bis zum Weihnachtsfest hinter der Waschmaschine versteckte. Und genau diese Trompete packte Herbert Trautzsch nun aus.

Nun war seine Freude groß, das Fell der Katze auf Edeltrauts Schoss kuschelig weich und alle schauten Herbert zu, wie er die Trompete an die Lippen hob und versuchte, ihr ein paar Töne zu entlocken. Plötzlich flog eines der Ventile davon und knallte gegen die Scheibe der Glasvitrine. Die Katze erschrak und sprang gegen die Gardine. Gustel schreckte aus dem Tiefschlaf und rannte aus dem Zimmer, verhedderte sich aber in den Kabeln der Beleuchtung und riss dabei den  Weihnachtsbaum mit sich;  Edeltrauts Zeh glühte und aus dem CD Player erklang "Oh du fröhliche ...".

*

Das war eine Bescherung, wie sie so noch nie im Hause Trautzsch vorgekommen war. Aber irgendwann kommt wohl in jeder Familie dieses eine Weihnachtsfest, an dem so manches schiefläuft. Bis zum Abendessen war alles wieder aufgeräumt, die Scherben sieben weiterer Weihnachtskugeln aufgefegt, Gustel hatte sich auf das Sofa gelegt und die Katze ihr neues Zuhause erkundet. Anschließend spielten die Kinder mit ihrem neuen Spielzeug und während Edeltraut ihren Zeh kühlte, wurde von früher erzählt und gesungen und gelacht.

Als Ruhe im Haus eingekehrt war und alle schliefen, schnurrte die Katze auf Edeltrauts Decke. Edeltraut aber lauschte nach den ihr bekannten Geräuschen vor dem Fenster. Wenn alle Geschenke verteilt sind, würde der Weihnachtsmann leise an die Tür klopfen, mit Edeltraut in deren Küche  Stolle essen und  Tango tanzen, bis er wenig später mit seinen Rentieten zurück an den Nordpol fliegen müsse. Edeltraut seufzte und dachte an ihren schlimmen Zeh ......


Ende




Kommentare

  1. Danke, liebe Frau Henriette, für das schöne anregende Nachweihnachtsgeschenk.ihnen und Ihrer Familien gute Rauhnächte und einen fröhlichen Rutsch ins Jahr 2025.

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