Das zweite Postpaket



Das nächste Paket, welches sich in der Dunkelheit zu Wort meldete, war das nagelneue Paket mit dem Logo von Amazon. "Auch ich bin ein Weihnachtspaket, eines von sehr vielen, die jeden Tag verschickt werden. Aber so schön und liebevoll wie du bin ich nicht umwickelt.", sagte es und blickte etwas neidvoll  auf das erste Paket. "Gepackt hat mich jemand, der den Empfänger überhaupt nicht kennt. Mich bekommt nämlich ein Kind, das sehr gern zu Weihnachten seinen Papa bei sich hätte. Aber das geht nicht. Soll ich euch davon berichten? ", fragte das Paket, holte tief Luft und begann seine Geschichte zu erzählen.


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Herr Schütti sah gar nicht aus wie ein Kapitän. Irgendwie stellt man sich doch einen Mann in seiner Position als älteren, erfahrenen Mann mit weißem Haar und weißem Bart vor. Herr Schütti war definitiv erfahren; hatte mit seinen rund vierzig Jahren aber noch kein graues Haar. Souverän steuerte er große Kreuzfahrtschiffe über die Ostsee und über die Nordsee. Hier war sein zweites Zuhause; er kannte viele Städte und deren Häfen, hatte so manche Windstärken miterlebt, wunderschöne Sonnenaufgänge gesehen und die gleiche Faszination gespürt, wenn die Sonne am Abend im Meer unterzugehen schien.

Wenn er festen Boden unter seinen Füßen spürte, war sein richtiges Zuhause bei seiner Familie. Dem Ehepaar Schütti war von Anfang an bewusst, dass es als Familie mit seinem Beruf nicht einfach werden würde. Doch inzwischen waren sie ein eingespieltes Team. Seine Frau Hermine und ihr gemeinsamer Sohn Matti wohnten mit deren Eltern auf dem Darß. Das Dorf, in dem Frau Schütti ihre Kindheit erlebte, hatte all die Zeiten überstanden. Hier gab es noch eine richtige Bäckerei, einen Kindergarten, eine Feuerwehr, einen kleinen Tante Emma Laden; und wenn die Dorfgemeinschaft sich am Weihnachtsabend in der Backsteinkirche mit der schlichten Innengestaltung zusammensetzte, dann spürte man den starken Zusammenhalt der Menschen dieses Dorfes.

Aber noch etwas war ganz besonders, und darauf wollte Hermine auf keinen Fall verzichten - die Kraniche! Mit ihnen war sie groß geworden, wenn diese im Frühjahr und im Herbst auf dem Darß Rast machten. Das war in jedem Jahr immer wieder ein wunderschönes Spektakel. Hermine hatte erst ihren Mann und nun auch Matti mit dieser Faszination für die Kraniche angesteckt. Nein, hier wollte sie nicht weg. Hier war ihr zu Hause! Allerdings die Sorge, wenn ihr Mann auf dem Weg nach Kiel zum Hafen die drei Stunden unterwegs war, die konnte ihr niemand nehmen.

*

Kapitän Schütti konnte in diesem Jahr zu Weihnachten nicht bei seiner Familie sein,  er musste über die Feiertage arbeiten. Während Hermine mit dem kleinen Matti den Weihnachtsbaum schmückte,  stand er auf der Brücke des fast ausgebuchten Kreuzfahrtschiffes und fuhr nach Stockholm, Helsinki und zu den großen Hafenstädten des Baltikums - nach Tallinn, Riga und Danzig.

Als sich der Kapitän an diesem Heiligabend eine kurze Pause gönnte, trat er hinaus auf das Deck und blickte über die ruhige See. Er beobachte zwei Möwen, die sich um ein angeknabbertes Brötchen stritten, und atmete die frische Luft tief ein. 'Der nächste Hafen ist Helsinki', dachte er, die nördlichste Stadt auf dieser Route. Er liebte diese Momente der Freiheit - ringsum das Wasser und über ihm der weite Himmel. Er dachte daran, dass Matti heute Abend sein Weihnachtsgeschenk auspacken würde. Jedes Jahr schenkte er seinem Sohn ein Schiff; bereits sechs standen in Mattis Zimmer - eine Fähre, ein Segelboot, ein Containerschiff, ein Motorboot, ein Polizeiboot mit Sirene (sehr zum Ärger von Hermine) und ein Hausboot. In wenigen Stunden würde Matti seine Titanic auspacken. Und wie immer, wenn er Dienst an den Weihnachtstagen hatte, begleitete Herr Schütti über einen Videoanruf die kindliche Freude seines Sohnes beim Auspacken des Paketes.

Während Mattis Papa kurz darauf auf den Fluren des Schiffes unterwegs war, roch er süße Plätzchenduft, begegnete einem als Weihnachtsmann verkleideten Koch, hörte aufgeregte Kinderstimmen und machte vor einem prachtvoll geschmückten Weihnachtsbaum halt. Dezent erklangen Weihnachtslieder aus den Lautsprechern, die jemand gekonnt auf einem Saxophon spielte. Sein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass er in zwanzig Minuten auf seiner Kabine sein müsse. Pünktlich 18 Uhr, so war es mit Hermine ausgemacht, würde er zu Hause anrufen und seine Lieben durch die Kamera sehen.

"Papa, Papa, der Weihnachtsmann ist hier gewesen, als ich mit Mama, Oma und Opa in der Kirche war. So viele Geschenke. Ob wieder ein Schiff dabei ist?", rief Matti und begann freudig die vielen bunten Pakete auszupacken. Auch das Amazon Paket lag dabei. Hermine zwinkerte ihrem Mann zu.

Oma weinte vor Rührung und glättete das Geschenkpapier. Opa hatte Matti nun auf dem Schoß. "Papa, bist du jetzt beim Weihnachtsmann am Nordpol?", fragte der Junge aufgeregt nachdem alle Geschenke ausgepackt waren. Stolz hielt er die neue Titanic im Arm. Sein Papa drehte die Kamera nun in die entgegengesetzte Richtung. "Nein, Matti, beim Weihnachtsmann bin ich nicht. Aber die Nordlichter, die kann ich sehen, guck!", sagte er und fühlte eine ganz besondere Stimmung.




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"Gibt es den Weihnachtsmann denn nun wirklich oder nicht?", überlegten die vier Pakete. Sie konnten sich nicht einigen. Aber in einem waren sie sich sicher, das Weihnachtswunder gibt es auf jeden Fall. 

Ende

Kommentare

  1. Welch schöne Geschichte, zum Nachdenken und zum Mitfühlen. Danke für das Nikolausgeschenk, liebe Frau Keller!

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    1. Sehr gern und vielen Dank. Mit den Polarlichtern über unserer Stadt hatten wir ja einen kleinen Vorgeschmack, wie herrlich das über der Ostsee aussehen muss ...

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  2. Ich war mittendrin - Danke für diese wunderbare kleine Auszeit liebe Henriette. Ich werde sie heute beim Rehasport als Entspannungszeit vorlesen und im Anschluss gleich eine Tonaufnahme für meine Homepage machen. Denn dort gibt’s einmal im Monat eine Henriette - Geschichte zum Anhören :) . www.lebenswerkstatt-bettina.de

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    1. Das freut mich und allen Rehasportlern ein frohes Weihnachtsfest!

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