Das erste Postpaket


Als sich der letzte Mitarbeiter der Hauptpost auf den Heimweg machte, löschte er das Licht und verschloss sorgfältig die Türen. Ruhe kehrte ein. Die vier Pakete, die in einem Regal lagen, umhüllte jetzt Dunkelheit. Morgen würden auch sie verteilt werden. Nun lag eine ganze Nacht vor ihnen und sie hatten Zeit sich kennenzulernen, von sich und ihrer Reise zu erzählen. Das weihnachtlich verpackte Paket rückte sich zurecht und begann als erstes von sich zu berichten. Es sprach von seinem Inhalt, einer leckeren Stolle und diversen Leckereien, die Edeltraut Trautzsch liebevoll für ihren Sohn und dessen Familie verpackt und ihren Mann mit dem Paket zur Post geschickt hatte.


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"Also ich weiß nicht, Herbertchen. Das hat es  doch noch nie gegeben! Wie kann es denn jetzt schon so heftig schneien? Wir haben immerhin noch November!  Komm doch mal und hilf mir mit dem Paket. Herbert! Nun trödel doch nicht! Die Post hat nicht den ganzen Tag geöffnet. Das Paket muss heute noch abgeschickt werden, sonst bekommt der Junge unsere Stolle nicht pünktlich zum 1. Advent!". Das waren die ersten Worte, die unser Paket im Hause der Familie Trautzsch bewusst wahrnahm. Der Mann, dem diese vielen Worte galten, saß jedoch im Wohnzimmer und war ganz in den Sportteil der Tageszeitung versunken.

Am Tag zuvor war dass Paket von der netten Frau mit einer kleinen Trittleiter vom Küchenschrank geholt. Anschließend stand das leere Paket auf dem Küchentisch, auf dem bereits etliche weihnachtliche Beigaben lagen - Geschenkpapier mit Weihnachtsmotiven, Geschenkband, Äpfel, Schokolade, Haselnüsse, ein Buch mit kleinen Weihnachtsgeschichten und ein Päckchen Kaffee. Dann hatte es geklingelt und mehrere Frauenstimmen füllten das Haus; Elfriede, Helga und Sieglinde waren gekommen um Edeltrauts Stolle zu kosten.

"Ich weiß nicht, die Luft riecht nach Schnee!", mutmaßte Sieglinde und richtete ihr Haar nachdem sie die Mütze vom Kopf nahm. "Das kann nicht sein, Sieglinde, es ist erst November.", rief Edeltraut Trautzsch lachend aus der Küche. Die vier humorvollen Frauen, die sich aus dem Lesezirkel kannten und seitdem befreundet waren, trafen sich regelmäßig und plauderten bei Kaffee und Kuchen über Bücher, und nach einem Glas des selbstgemachten Eierlikörs auch über ihre Kinder, Enkelkinder, neue Rezepte und manchmal auch über ihre Ehemänner. Edeltraut balancierte ein volles Tablett an den Freundinnen vorbei, die ihr folgten, und stellte die Kuchenplatte samt Kaffeekanne auf den gedeckten Tisch. Beinahe wäre die Stolle von der Platte gerutscht. Während sich die Freundinnen Edeltrauts Stolle und den Kaffee schmecken ließen, erzählte diese, wie sie gemeinsam mit Herbert die Zutaten für die Stolle besorgt hatte. In diesem Jahr gab es  durch den späten Frost im Frühjahr keine Walnüsse. Doch ihr Sohn, der am Niederrhein lebt, hatte seinen Eltern beim letzten Besuch extra für die Stollen drei Kilo Walnüsse mitgebracht.

Dem Paket brummte am Abend der Kopf. Nun war es wieder ruhig im Haus, nur das leise Schnarchen von Herbert und Edeltraut Trautzsch drang aus dem Schlafzimmer. Frau Trautzsch, felsenfest davon überzeugt, mit einem guten Schlaf gesegnet zu sein, glaubte nicht an ihr Schnarchen. Sie hatte sich schließlich noch nie schnarchen hören.

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Sieglinde sollte Recht behalten. Als Frau Trautzsch am nächsten Morgen die Fensterläden öffnete, erblickte  sie fröstelnd die weiße Pracht. Es musste tatsächlich die ganze Nacht geschneit haben und noch immer fielen große, dicke Schneeflocken vom Himmel. Rasch weckte sie ihren Herbert, der genauso ungläubig staunte. Während er mit dem Schneeschieber die Auffahrt und den Fußweg vom Schnee befreite, bereitete Edeltraut das Frühstück zu. Sie trällerte gemeinsam mit dem spaßigen Radiomoderator ein fröhliches "Schneeflöckchen, Weißröckchen" und wischte tänzelnd mit dem Geschirrtuch ein paar Brötchenkrümel von der Arbeitsplatte.

Als das Paket dank Herberts Hilfe mit Weihnachtspapier und Paketschnur umwickelt und der Paketaufkleber beschriftet war, versuchte Herr Trautzsch das Auto aus der Garage zu fahren. "Herbertchen, mach bloß vorsichtig.", bat ihn Edeltraut sorgenvoll  und blickte ihm nach, während er langsam mit dem Paket in Richtung Post fuhr.

Mit hochrotem Kopf vom erneuten Schnee schieben, aber stolz es noch pünktlich zur Post geschafft zu haben, betrat Herbert zwei Stunden später wieder das Haus. Herr und Frau Trautzsch waren froh, dass ihr Paket mit der selbstgebackenen Stolle noch pünktlich zum 1. Advent ihren Sohn und dessen Familie erreichen würde. So war es Tradition und alle würden Edeltrauts Stollen loben, das war ihr sehr wichtig.

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Edeltraut hatte insgesamt vier Stollen gebacken. Eine war nun im Paket unterwegs, eine weitere Stolle lag bereits angeschnitten in der Speisekammer, eine Stolle war für Weihnachten, wenn die ganze Familie beisammen sein würde, und eine etwas kleinere Stolle lag hinten im Küchenschrank versteckt; diese würde sie dem Weihnachtsmann schenken. Seit einem nebligen Zwischenfall vor drei Jahren tanzte Edeltraut in jeder Weihnachtsnacht mit dem Weihnachtsmann in ihrer Küche Tango bevor er sich wieder auf den Rückweg zum Nordpol machte. Auch das war inzwischen Tradition.

Doch es sollte alles anders kommen .....

ENDE

PS: Ob das Paket tatsächlich ausgeliefert wird, was bei Familie Trautzsch wieder mal alles schiefläuft und wie sie ihren Heiligen Abend verbringen, dass erfahrt ihr nach den Weihnachtsfeiertagen. Nächsten Sonntag, wenn die zweite Kerze am Adventskranz leuchtet, wird uns das zweite Paket von sich berichten. 

Kommentare

  1. Wie schön uns die Henrietten-Geschichte schon auf Weihnachten einstimmt. Danke, liebe Frau Keller, ich warte mit Ungeduld auf die nächste.
    Herzliche Grüße aus Dobien.

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