"Abschied" Teil 2 Die Geschichte

 


Dass sie diesen Mann nie wieder sehen würde, war ihr klar. Das hätte sie auch nicht gewollt. Und auch wusste sie instinktiv, dass es nur seine Worte waren, die er von einem Zettel ablas. Es waren die Worte an sich, die er sagte: "Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden". Sie schloß einen Moment die Augen und verinnerlichte dieses Zitat. Alsbald war die Veranstaltung vorbei und der Mann, der kurz zuvor noch auf der Bühne stand, verschwunden. Seit diesem Moment waren viele Jahre vergangen.

Doch heute dachte sie wieder an dieses Zitat. Sie saß im Park auf einer Bank. Eine Stunde zuvor hatte die Auswertung der Laborergebnisse die Diagnose des Arztes bestätigt. Es fühlte sich an, als ob die Welt für einen Moment stehenblieb - ihre Welt. Denn der Bach plätscherte genauso wie beim letzten Mal, als sie hier spazierengegangen war. Unweit spielten Kinder mit einem Ball, sie konnte deren Lachen hören. Und sie hörte das Baby in dem Wagen einer jungen Frau, die an ihr vorbei lief; es weinte. 'Vielleicht hat es Hunger?', dachte sie und lauschte wieder dem Plätschern des Baches.


Solange sie konnte war sie in den folgenden Wochen zu dieser Bank gegangen, um dem monotonen Plätschern zu lauschen. Das hatte ihr Kraft gegeben. Kraft, die ihr jetzt fehlte und die nicht mehr zurückkehren würde. Ihre Welt war kleiner geworden, sehr klein. So klein wie dieses Zimmer mit dem großen Fenster. Von ihrem Bett aus konnte sie durch das geöffnete Fenster die Dächer der Häuser auf der anderen Straßenseite sehen. Und die Krone der Linde vor dem Haus. Das Summen der Bienen an den Lindenblüten klang wie eine Melodie, lebendige Töne. 

Sie musste wohl eingenickt sein. Das Licht in ihrem Zimmer war anders als zuvor, weicher. Und auch der Schatten der Vase auf dem Tisch zeigte nun eine längere Form an der Wand gegenüber.

Dann sah sie etwas, dass ihren Blick fesselte. Eine riesige Seifenblase schwebte langsam an ihrem Fenster vorbei. Ihr folgte eine weitere und noch eine. Sie schimmerten in den Farben eines Regenbogens und waren im Durchmesser so groß wie der Hula Hoop Reifen, den sie als Kind so gern um ihre Hüften kreisen ließ. Woher kamen wohl diese wunderschönen Seifenblasen? Und dann so groß? 

'Ob ich es schaffe?', fragte sie sich und richtete sich langsam auf. Es waren nur fünf, sechs Schritte bis zum Fenster. Vorsichtig stellte sie einen Fuß vor den anderen. Barfuss spürte sie das kühle Laminat unter ihren Füßen. Von der Bettkante, vorbei an der Stuhllehne bis hin zum Fensterbrett. Wenige Augenblicke später hatte sie es tatsächlich geschafft und stand aufrecht am Fenster. Mit beiden Händen hielt sie sich am Fensterbrett fest. Noch immer schwebten Seifenblasen an ihr vorbei zum Himmel. Ihr Blick folgte ihnen erneut bis die Seifenblasen zu klein wurden. Neugierig suchte sie nach deren Quelle und fand sie auf dem Fußweg. Ein Straßenkünstler schwang einen großen Ring über seinem Kopf, dem diese Seifenblasen entsprangen. Die Menschengruppe um ihn herum klatschte. Dann legten die großen und kleinen Zuschauer ihre Köpfe in den Nacken und schauten den Seifenblasen nach. Genau wie die Frau am Fenster über ihnen.

Als sie am Abend die Nachttischlampe ausknipste, berührten ihre Finger den Stoff des Fotoalbums auf dem Nachttisch. Ihre Familie hatte darin noch einmal Stationen ihres Lebens zusammengestellt. Erfüllt vom Erlebten war sie müde geworden. Vielleicht würde der Straßenkünstler morgen noch einmal solche großen Seifenblasen an ihrem Fenster vorbeifliegen lassen.






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