Commissaria Barbara Barbera und die Tote im Pool



Von ihrem Platz aus konnte Commissaria Barbara Barbera genau auf die Kirchturmuhr blicken. Der Piazza, auf dem die Kirche vor einigen Jahrhunderten erbaut wurde, war nicht weit entfernt. Heute Abend leuchtete nicht nur der Kirchturm; auch das ganze Städtchen schien von der Abendsonne in ein weiches Orange getaucht zu sein.

Solche wunderschönen Sonnenuntergänge gibt es nur hier im Herzen der Toscana, dachte die Commissaria. Sie war über das lange Wochenende zu ihren Eltern gekommen, die noch immer in dem Casa wohnten, in dem die Commissaria aufgewachsen war. Vier freie Tage, und weit genug von der Questura entfernt, um angerufen zu werden, falls man sie im zweihundertzwanzig  Kilometer entfernten Macerata brauchen würde. Nein, sie hatte frei und freute sich auf diesen schönen Abend.

Sie hörte den vielen Stimmen zu, die um sie herum erklangen. Ihre Familie, Freunde, Nachbarn - sie alle saßen an einer langen Tafel. Dieses Stadtteilfest war schon viele, viele Jahre zur Tradition geworden. Ob Groß oder Klein, jeder hatte sein Geschirr mitgebracht. Auf den weißen Tischtüchern standen Platten mit Antipasti, Schüsseln voller Pasta und würziger Saucen, Flaschen mit Wasser und Vino; jeder hatte etwas zum Abendessen beigesteuert. Vasen mit bunten Blumen aus den Gärten ringsum standen zwischen dem Geschirr. Und so wurde mit einem gemeinsamen "Salute"  angestoßen. Später würden viele Kerzen auf der langen Tafel für die gemütliche Stimmung sorgen, die Commissaria Barbara Barbera so liebte.

Während sich ein Nachbar nach ihrer Arbeit in der Questura erkundigte, beobachtete Barbara ein ungleiches Paar, das an ihnen vorbeiging. Der Mann war wesentlich älter und die Frau, die ein bodenlanges Sommerkleid trug, weinte. Ihre Schritte wurden immer schneller, seine immer langsamer. Sie entfernten sich in die andere Richtung. Commissaria Barbara Barbera nippte an ihrem Glas Brunello di Motalcino, während sie den beiden nachdenklich hinterherschaute. Es war weit nach Mitternacht als sich das Fest auflöste. Nichts blieb übrig, kein Essen, kein Vino, kein Müll, keine leeren Flaschen - auch das war hier Tradition.

Barbara Barbera hatte vielleicht zwei Stunden geschlafen, als es leise an die Tür ihres alten Kinderzimmers klopfte. Müde öffnete sie ihrer Nonna die Tür, die ihr aufgeregt das Telefon übergab. Sofort war die Commissaria hellwach. Sie zog sich an, kämmte sich ihr dunkles Haar und nach einem starken Espresso verließ sie in der Morgendämmerung das Elternhaus. Den Weg konnte sie zu Fuß gehen, der von Touristen beliebte Palazzo war nicht weit entfernt.

"Buongiorno, Commissaria. Wir sind sehr froh, dass sie kommen konnten, grazie. Die zuständigen Commissari sind an einem anderen Tatort. Dieser Fall ist eigentlich klar, der arme Kerl hat uns selbst informiert. Aber wir benötigen Sie dennoch für die Festnahme und für das Protokoll".

Dem Mann, der zusammengesunken auf den kühlen Terrassenfliesen neben einem riesigen Oleander saß, waren bereits die Fingerabdrücke abgenommen worden. Das erkannte Barbara Barbera an den schwarzen Flecken auf seiner Stirn, die er vermutlich auf seine Hände gestützt hatte. Er kam ihr bekannt vor. War das nicht der Mann, der sich noch gestern Abend auf der Straße mit seiner Frau gestritten hatte? Sie drehte sich um; das Kleid der Toten beantwortete ihre Vermutung.


Sie lag, als würde sie schweben, in einem etwa acht Meter langen Pool. Ihr blondes Haar umgab ihr Gesicht wie ein Fächer. Das lange, helle Sommerkleid wechselte ständig die Farbe, je nachdem, welcher Strahler den Pool in dem Moment illuminierte. "Stellt das bitte ab!", bat die Commissaria ihre Kollegen von der Kriminaltechnik und wandte sich fragend dem Mann zu, "Können Sie mir sagen was geschehen ist?". Dieser schaute sie traurig an.

"Wir hatten einen heftigen Streit, ich weiß nichts mehr. Dann ist sie gestürzt. Ich wollte das nicht! Wissen Sie, wie viele Sommerkleider meine Frau besitzt? In jede Boutique musste ich mit hinein - hier ein Kleid, da ein Kleid. So gern hätte ich mir die wunderschöne Natur hier angesehen, hätte ich in einer einfachen Osteria gegessen oder wäre barfuß im Val d' Orcia gewatet. Aber sie? Ständig nur vom Feinsten! Es war schon schwer, für unseren Urlaub diesen Palazzo zu buchen. Meine Frau wollte eigentlich wieder ein teures Hotel. Einzig mit dem Pool konnte ich sie überzeugen, hier für zwei Wochen mit mir zu wohnen". Die Commissaria verstand genau was der Mann meinte. Sie liebte dieses Land, die kleinen Städte, das einfache Essen, die Bodenständigkeit der Menschen und vor allem die wunderbare Natur. Nachdenklich schaute sie auf die Tote in Pool. Schade, dass es manchen Menschen nicht vergönnt war, das zu sehen, was andere Menschen selbst mit geschlossenen Augen spüren konnten. Sie berührte die Schulter des Mannes und beide schwiegen. Den Rest würden die zuständigen Kollegen klären.

Auf dem Heimweg schloss Barbara Barbera für einen Moment die Augen und atmete tief durch die Nase ein. Alle paar Schritte änderte sich der typisch italienische Geruch. Es war der Duft des warmen Sommers, dazu der Duft nach reifem Obst aus den Gärten. Aus einem Küchenfenster drang der Geruch nach Kaffee und ein Haus weiter kochte schon jemand eine würzige Sauce. Und hier, an dieser Stelle, der aromatische Duft, der sie begleiteten würde solange sie an der Rosmarinhecke entlangging. Commissaria Barbara Barbera blieb stehen. Vor ihr lag eine rotbraune Katze in der Morgensonne. Träge und satt blickte die Katze sie an, sichtlich mit sich selbst und der Welt zufrieden. Sie dachte an den Mann, der hier seiner Seele eine Pause schenken wollte - aber mit dieser Frau an seiner Seite keine Ruhe fand. Wie würde das Gericht entscheiden?

Zwei Tage später fuhr sie zurück nach Macerata. Noch am Abend besuchte Barbara Barbera ihre Freunde in deren Trattoria. Hier, außerhalb der Stadt, fanden Einheimische und Touristen Ruhe nach einem heißen Sommertag - nach der Arbeit oder einem Bummel durch die kleinen Städtchen ringsum. Dieser Ort hätte dem Mann gefallen, dessen Haft sicher von kurzer Zeit sein wird. Vielleicht plädiert sein Anwalt auf Unfall mit Todesfolge, hoffte die Commissaria.

Patricia und Giorgio begrüßten ihre Freundin herzlich. Es gab viel zu erzählen. Als sich die Tische langsam leerten und es in der Trattoria ruhiger wurde, setzten sich die Drei auf die Terrasse. Die Abendsonne war noch immer recht warm. Giorgio füllte die feingeschliffenen Wassergläser nach und öffnete eine Flasche Wein.

"Sag mal, wie viele Sommerkleider hast du eigentlich, Patricia?", fragte Barbara nachdenklich. "Zu viele", lachte ihre Freundin. "Warum fragst du?" wollte Giorgio wissen. Commissaria Barbara Barbera schwieg und streichelte die Katze auf der Bank neben sich. Später erzählte sie ihren Freunden von der Toten im Pool.


Ende



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