Walpurgisfrauen


Almut konnte an diesem Tag den Feierabend kaum erwarten. Der Blick auf die Uhr, die schon seit dem Ende ihrer Ausbildung über der Tür der Poststelle in der Kreisverwaltung hing, verriet ihr, dass es in wenigen Minuten Zeit für die Mittagspause war. Sie freute sich auf den Kurzurlaub mit ihrer Freundin Birgit. Sie freute sich so sehr, dass ihr heute sogar die mit dünner Butter beschmierte Graubrotstulle schmeckte, zu der sie grüne Gurkenscheiben knabberte.

Ihr Handy piepste. Eine Nachricht von Birgit, ob für die morgige Fahrt alles okay wäre. Birgit, ihre Freundin aus Kinderzeiten, die genervte Mitbürger im Bürgerbüro beriet, so gut es eben ging. Mit ihr war es immer lustig, schon lange wollten sie eine Tour in den Harz machen und nun war es endlich so weit. Die Taschen waren gepackt und Frau Lewe, ihre Nachbarin, würde sich die paar Tage um Almuts Katze Luna kümmern.

Das Hotel in Wernigerode war nicht sehr groß und lag direkt im Stadtzentrum. Die Hotelzimmer gingen zum Markt, von wo sie die Glocken einer Kirchturmuhr hören konnten. Ausgeruht betraten die beiden Frauen am Morgen das Restaurant, um den Tag mit einem ausgiebigen Frühstück zu beginnen. Das Buffet ließ keine Wünsche offen und so genossen Almut und Birgit ihren Kaffee, frische Brötchen, Rührei, Käse, Obst und verschiedene regionale Marmeladen.

Am Tisch neben ihnen saß ein Mann, auf dessen Platz als Frühstück ein Glas Wasser und zwei gekochte Eier lagen. Almut schaute gedankenlos zu dem hageren Mann, dessen Sitzhaltung ihr unangenehm und unangemessen erschien. Doch einen Augenblick später war sie wieder mit Birgit im Gespräch vertieft. Heute wollten die Zwei durch das alte Städtchen bummeln und sich treiben lassen.

In einem Antiquariat verbrachten sie viel Zeit. Birgit fand ein Buch über Hexen und Hexenkult. Sie mochte schon immer die Mythen und Geschichten rings um den Harz. Ein paar Schritte weiter zog die zwei Frauen ein Schild über einem Geschäft in ihren Bann. ALCHEMIE - ein Muss für Birgit, die stets das ihr Unbekannte, Übersinnliche erforschen wollte und Almut, die auf die Heilkräfte der Natur vertraute - hier waren sie am richtigen Ort. 



Das Alter der sympathischen Frau, die Birgit und Almut begrüßte, konnten sie nicht schätzen - vielleicht waren sie sogar im gleichen Alter. Bernadette hatte langes rotes Haar. Ihr Kleid war nachtblau und verbarg kaum ihren weiblichen Körper. Sie lud die beiden Frauen auf eine Tasse Tee ein, dessen Kräuter sie selbst gesammelt hatte. Almut bestaunte die alten Schriften, Elixiere, Heilsteine und verschiedenen Stoffarten. Jeglichen Hexenzauber, eine Kristallkugel oder Flakons mit Zaubertränken gab es hier nicht. Ungefähr zwei Stunden verbrachten sie bei Bernadette, stöberten durch die Auslagen und schauten in große und kleine Holzkisten. Bei der Verabschiedung gaben sie sich die Hand. Bernadettes Pupillen waren von einem seltenen, warmen Grün umgeben, wie bei Luna, Almuts Katze, und wie es nur manchen Frauen vergönnt war.

Almuts Hand fühlte sich danach weich und warm an, genauso wie der Stein aus Rosenquarz, den sie sich ausgesucht hatte, während Birgit und  Bernadette miteinander sprachen. Birgit war jetzt ruhiger, in Gedanken versunken und trug eine Papiertüte mit mehreren Büchern bei sich, in denen sie am Abend vor dem Kamin in der Lobby blätterte.

Am nächsten Morgen klopfte Almut leise an Birgits Zimmertür um sie zum Frühstück abzuholen. Im Restaurant setzten sie sich an genau den Tisch, an dem sie auch gestern gesessen hatten und freuten sich darauf, in Ruhe genussvoll in den Tag zu starten. Am Nebentisch saß ebenfalls, wie am gestrigen Morgen, der hagere Mann. Vor ihm lagen wieder zwei gekochte Eier auf dem Teller. 



Da klingelte sein Handy. Er griff danach und anstatt diskret zum Telefonieren in die Lobby auszuweichen, fläzte er sich auf die gleiche unangemessene Art wie gestern auf seinem Stuhl und redete laut mit niederländischem Dialekt. Sogar zum Buffet ging er telefonierend um sich ein weiteres Glas Wasser zu holen. Allen Frühstücksgästen schien die Situation zu missfallen.

"Zu schade, dass es hier ein stabiles Handynetz gibt, der Typ geht mir auf die Nerven", flüsterte Almut leise in Birgits Richtung.  Birgit lächelte und senkte den Blick. Kurz darauf wiederholte der Mann sein fragendes "Hoi", wurde dabei immer lauter und warf dann mit krauser Stirn sein Handy auf den Tisch. Er schmitt eine Grimasse zur Kellnerin und griff nach einem der beiden Frühstückseier auf seinem Teller . "Ich glaub's ja nicht! Dem wünschte ich, das Ei wäre noch roh.", zischte Almut. Birgit lächelte erneut. Als Almut sich ein Schälchen Obst vom Buffet holte, hörte sie es hinter sich fluchen "Shijt, Shijt, Shijt". Auf dem Weg zurück zum Tisch sah sie die Gäste lachen und den Mann mit einer Serviette an seiner Hose hantieren. "War das Ei tatsächlich noch roh?". Birgit lächelte verstohlen.

Nach dem Frühstück beeilten sich die beiden Frauen, sie wollten mit der Harzer Schmalspurbahn nach Schierke fahren und von dort auf den Brocken wandern. Die Fahrt war entspannt und der Waggon, in dem Almut und Birgit saßen, nicht sehr voll. Vorbei ging es an grünen Wiesen, durch einen Wald und eine Weile immer entlang eines Baches. Die Dampflock zischte und pfiff. Almut freute sich wie ein Kind. "Zu schade, dass wir bald da sind", seufzte sie. Wenige Augenblicke später bremste es sacht, dann stand die Schmalspurbahn mitten im Wald. Nur ein Bahnhof war nirgends zu sehen. Die Vögel zwitscherten und das Sonnenlicht leuchtete zwischen den Bäumen warm und mystisch. Almut sah Birgit fragend an, die wieder geheimnisvoll lächelte. Dann dämmerte es Almut und sie hielt sich die Hand vor den Mund. "Birgit, sag jetzt nicht, dass du das jedes Mal warst. Erst das gestörte Handynetz, dann das rohe Frühstücksei und jetzt hält die Bahn mitten im Wald, wo es so schön ist!". Birgit nickte und legte lächelnd ihren Zeigefinger auf den Mund. Langsam ging die Fahrt weiter. "Lass uns bis ganz hoch zum Brocken fahren und wir wandern zurück. Dann erzähle ich dir alles.", bat Birgit.

"Kannst du auch die Natur hier am Brocken heilen", flüsterte Almut fragend beim Blick in die Wälder, die, je höher sie mit der Bahn gekommen waren, immer trockener aussahen. Während der Wanderung zurück erzählte Birgit, dass sie in den alten Büchern von Namen einiger ihrer Vorfahren gelesen und noch in der Nacht mit Bernadette telefoniert hatte. "Bernadette meinte, ich solle auf mein Gefühl hören. Das Große und Ganze kann ich leider nicht verändern - aber kleine Neckereien gelingen mir gut. Warte erst einmal ab bis wir nächste Woche wieder arbeiten gehen. Ich habe da schon viele Ideen!", lachte Birgit. Gemeinsam, und mit vielen Plänen im Kopf, wanderten die beiden Frauen den Wanderweg am Brocken herab.



Ende










Kommentare

  1. Lange schon erwartet, mit Vergnügen zu lesen begonnen und

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  2. ... und am Ende überascht, lächelnd. Danke sehr.

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