"Geiselnahme auf dem Zürichsee" - eine Weihnachtsgeschichte



Urs Egli war Kommissar bei der Kriminalpolizei in Zürich. Und er war tatsächlich genauso wie die  Bedeutung seines Namens sagte - Urs,  der Bär. Der Kommissar war groß und kräftig, ein Bild von einem Mann. Viele Frauen schauten nach ihm, wenn er in Zürich unterwegs war. Doch entgegen seines Aussehens war Urs Egli ein schüchterner und ruhiger Mann, der mit sich allein sehr gut zurecht kam.

Zürich ist eine faszinierende Stadt, die viele Menschen wie ein Magnet anzieht, wo in der exclusiven Bahnhofstraße die teuersten Boutiquen zu finden sind. Während es in Deutschland 4979 Bahnhofstraßen gibt, in denen man im Dunkeln nicht gern allein unterwegs sein möchte, lädt die Bahnhofstraße in Zürich zum Staunen ein. Sie beginnt mit ihren rund 1,5 Kilometern am Hauptbahnhof und endet kurz vor dem Zürichsee.

Kommissar Urs Egli und seine Kollegen hatten sich heute nach Dienstschluss zur alljährlichen Weihnachtsfeier verabredet. Aber noch war der Kommissar alleine unterwegs. Die Glocke der Apothekentür schellte hinter ihm, als er wieder hinaus auf den Fußweg trat. Eine Erkältung machte ihm zu schaffen und seine Nase war vom vielen Putzen schon ganz rot, fast wund.

Vor zwei Stunden hatte es begonnen zu schneien. Hoch über den Gleisen der Straßenbahn wehte die quadratische Schweizerfahne. 'Meine rote Nase und der weiße Schnee geben ja die Farben der Fahne wieder', dachte Urs Egli und lächelte bei dem Vergleich. Dann machte er sich auf den Weg zum Dörfli-Weihnachtsmarkt im Herzen der Altstadt. Ein paar Kollegen seiner Abteilung standen vor einem Stand neben dem großen Weihnachtsbaum und gaben ihm von weitem ein Zeichen. Die anderen Kollegen würden sie später auf dem Ausflugsschiff treffen.

"En Guete", sagte Urs Egli zu den Kollegen und alle ließen sich die Kräpfli und den Punsch schmecken. Die vielen Lichter ringsum versetzten alle großen und kleinen Weihnachtsmarktbesucher in eine weihnachtliche Stimmung. Aus den Lautsprechern tönten Weihnachtslieder und ein Weihnachtsmann schwang eine Glocke, während er mit einem schweren Jutesack zur Bühne eilte. Urs Egli trug einen Rucksack auf dem Rücken, in dem das Weihnachtsmannkostüm seines Schwagers lag. Der Kommissar hatte das Los gezogen dieses Jahr auf der Weihnachtsfeier den Weihnachtsmann zu spielen.

Es war bereits dunkel als die Männer und Frauen an der Anlegestelle eintrafen. Die Tische auf dem Ausflugsdampfer waren gemütlich eingedeckt. Alle Kollegen der Abteilung hatten sich im Vorfeld auf ein Käsefondue mit Röschti geeinigt. Der Herbst war lang und warm gewesen und niemand wollte einen Weihnachtsbraten. Nach dem Essen zog sich Urs Egli in eine Kajüte neben der Küche zurück und verwandelte sich in den von Allen erwarteten Weihnachtsmann. Der künstliche Bart juckte fürchterlich an seiner empfindlichen Schnupfennase. Er überprüfte seine Verwandlung in einem Wandspiegel und steckte zu sich selbst die Zunge raus. Lustlos und mit dem Geschenkesack bepackt, der am Eingang gestanden hatte, gesellte er sich zu seinen Kollegen, die ihn klatschend und pfeifend begrüßten.

Da öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und ein maskierter Mann trat mit einer Pistole herein.

"Das ist eine Geiselnahme! Her mit den Pistolen, Handys, Schmuck und euren Uhren! Und in zwanzig Minuten will ich ein vollgetanktes Auto am Hafen!", schrie er und hielt mit der anderen Hand seinen Rucksack auf. Die Kollegen klatschten in die Hände und lachten; noch immer in der Annahme, dies sei ein Teil des Weihnachtsprogrammes. Ein Kollege rief fragend, ob es sich bei ihm um einen modernen Weihnachtsmann handelte, der anstatt Geschenke zu bringen, die Gaben zuvor abholte. Erst als sich ein Schuss aus der Pistole löste und ein Fenster zersprang, wurde es still. Der Maskierte ging von Tisch zu Tisch.

"Hey, du! Warte! Ich habe auch für dich ein buntes Päckli dabei, fang auf!", rief Urs. Der verblüffte Geiselnehmer drehte sich um,  ließ überrascht die Pistole fallen und versuchte das bunt verpackte Weihnachtsgeschenk aufzufangen. Beherzt ergriffen ihn einige Männer und alle atmeten auf.

"Grüezi, ich weiß immer noch nicht, ob das jetzt echt war oder nicht, aber diese Weihnachtsfeier gefällt mir besser, als die vom letzten Jahr", lachte die nette Kollegin, die in diesem Moment von der Toilette kam und die vergangenen Minuten verpasst hatte. Sie nahm sich ein Glas Sekt von der Bar und zwinkerte dem stattlichen Weihnachtsmann zu.

Urs Egli, der ungewollte Held des Abends, blieb vor seiner Wohnung am Lindenhof stehen. Er trug noch immer das Weihnachtsmannkostüm und blickte auf das Wasser der Limmat unterhalb des Parks. Auf deren Wasseroberfläche spiegelten sich in der Dunkelheit die Lichter der Stadt.  "Ho Ho Ho", flüstere er leise in sein Handy, nachdem er zum ersten Mal die Telefonnummer der netten Kollegin gewählt hatte. Erst weit nach Mitternacht schloss er seine Wohnungstür auf. In der rechten Hand hielt der den Schlüssel und sein Nasenspray. Müde fiel sein Blick auf den Brief in seiner linken Hand, den er noch rasch überflog. Morgen früh würde er sich mit den Kollegen aus Norwegen, Österreich und Italien in Verbindung setzen, die ebenfalls zu diesem Seminar Anfang Januar eingeladen waren. Kurz darauf war er eingeschlafen.




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