Ostern bei Familie Trautzsch


Edeltraut Trautzsch saß in einem geräumigen Bus; genauer gesagt, im hinteren Teil der Stadtlinie. Sie war auf dem Weg nach Hause und atmete tief durch. Das Osterfest stand vor der Tür und in wenigen Tagen würde sie ihren Sohn, ihre Schwiegertochter und die Enkel wiedersehen. Unsere rüstige Rentnerin hatte eine unruhige Zeit hinter sich, ihr Herbert lag mit Scharlach im Bett. Er hatte sich bei den Nachbarszwillingen Ada und Albert angesteckt. Dazu war auch noch das Auto kaputtgegangen. Helene, ihre hilfsbereite Nachbarin, hatte heute jedoch keine Zeit, Edeltraut in die Stadt zu fahren. Und deshalb flüsterte Edeltraut bei jedem geräuschvollen Öffnen und Schließen der Bustür beruhigend auf das kleine Fellknäuel in ihren Armen ein.

"Pst, Gustel, alles gut, wir sind bald zu Hause" drangen die leisen Worte der Frau an das rechte Ohr des jungen Dackels, der heute vom Züchter abgeholt und in sein neues Zuhause mitgenommen wurde. Anfangs war er noch ganz aufgeregt, als ihn im Bus beherzt zwei Hände aus der Tasche genommen hatten. Vor Aufregung hatte Gustel eine kleine Wurst auf den roten Sitz daneben gemacht. Das hatte die nette Frau aber nicht bemerkt. Die Hand der Frau, die ihn liebevoll streichelte, war ganz warm. Mit dem linken Ohr konnte Gustel nichts hören, das lag an dem großen Busen der netten Frau mit der leisen Stimme. Ihr Herz dahinter schlug ruhig und ließ den kleinen Welpen einschlafen.

"Guten Tag! Dieser Platz ist doch ganz sicher noch für mich frei!", weckten ihn die lauten und sehr bestimmten Worte einer anderen Frau, die sich, ohne auf eine Antwort zu warten, mit ihrem hellen Mantel auf den freien Platz neben Edeltraut Trautzsch setzte. 'Oh nein, mein Würstchen', dachte Gustel, und 'Oh nein, sie riecht nach 4711', dachte auch Edeltraut, hielt die Luft an und drehte sich zum Fenster.

Zwei Haltestellen später musste die Frau im hellen Mantel kurz aufstehen, um Edeltraut Trautzsch mit ihrer Tasche durchzulassen. Edeltraut war froh, dem Geruch von 4711 und etwas Anderem, Undefinierbarem, zu entkommen. Als die Stadtlinie bremste, stieg Edeltraut mit dem kleinen Gustel in der Tasche aus, atmete die frische Luft ein und eilte von der Haltestelle nach Hause.

Der kleine Dackel fühlte sich wohl in seinem neuen Zuhause. Die nette Frau, die auf den Namen Edeltraut hörte, füllte regelmäßig seine Näpfe mit Wasser und Futter und gab ihm Leckerlis. Und sie streichelte ihn wann immer er wollte -  oft auch zwischendurch. Der Mann, der auch hier wohnte, und den die Frau "Herbertchen" nannte, schlief nicht mehr so viel wie am ersten Tag und war wieder gesund. Das Wort "gesund"  sagte die nette Frau oft. Im Haus nebenan wohnte noch eine Familie, deren Kinder sich sehr ähnlich sahen und die auch wieder "gesund" waren. Sie spielten oft mit Gustel im Garten und tollten mit ihm herum.

Manchmal jedoch fühlte sich Gustel beobachtet. Wenn er sich dann umsah, erblickte er ein anderes Tier, das dann flink weghoppelte. Es hatte auch braunes Fell wie er, aber seine Ohren waren lang, seine Zähne groß und es lachte. 'Seltsam ', dachte dann der kleine Dackel, tollte weiter durch den Garten und schlief später auf dem Schoss der netten Edeltraut.

"Hey! Hey du! Ja, du da", hörte es Gustel leise am angekippten Küchenfenster. Er blickte auf und sah das seltsame Wesen am Fenster winken. Dann schaute er zu Edeltraut, die eifrig in einer großen Schüssel rührte und heute nur wenig Zeit für den Welpen hatte. "Komm raus, ich bin der Osterhase und tu dir nichts.". Gustel lief zur Haustür, die nur leicht angelehnt war.

"Ist deine Chefin schon fertig? Sind die Flaschen schon voll?", fragte der aufgeregte Osterhase den verblüfften Gustel. "Was meinst du denn? Was soll fertig sein und welche Flaschen?", fragte er seinen neuen Freund. Dann erzählte der Osterhase von seinen Erlebnissen jedes Jahr am Ostersonntag, nach dem Genuss von Edeltraut Trautzsch's selbstgemachten Eierlikör. Wie er im ersten Jahr eine Flasche Eierlikör, die für Herbertchen im Garten versteckt war, getrunken hatte, dann eingeschlafen und später grölend die Straße im ZickZack hin und her gehoppelt war. Und wie er im nächsten Jahr beschwipst mit den bunten Eiern jongliert und Edeltraut ihn ungläubig und mit offenem Mund am Fenster beobachtet hatte. Das Ei, das ihm der Weihnachtsmann für Edeltraut Trautzsch mitgeschickt hatte, war dabei zerbrochen.

Edeltraut hatte von Gustel und dem Osterhasen nichts mitbekommen. Sie rührte gedankenversunken im fertigen Eierlikör und kostete mehrere Schlucke, bevor sie ihn in Flaschen abfüllte und diese mit Etiketten beklebte, die sie zuvor mit ihrer steilen Handschrift beschrieben hatte. Edeltraut war froh, dass es Herbert und den Zwillingen nebenan wieder gut ging. Und sie überlegte, ob sie an alles für das bevorstehende Osterfest gedacht hatte. Morgen würde ihr Sohn mit seiner Familie anreisen und die Enkel würden Gustel kennenlernen. Und sie dachte an das letzte Jahr, als sie beim Abfüllen zuviel Eierlikör gekostet und sich eingebildet hatte, den echten Osterhasen im Garten zu sehen.

Eine Stunde später standen von den zuvor 14 Flaschen Eierlikör nur noch 12 Flaschen sauber etikettiert neben den gefärbten Eiern am Fenster. Edeltraut Trautzsch war vom Kosten müde auf dem Sofa eingeschlafen. Sie fühlte schlaftrunken mit der Hand nach Gustels weichem Fell -  aber der kleine Dackel lag nicht wie üblich bei ihr. Edeltraut schlug die Sofadecke zurück und stand auf. "Gustel, Gustel! Wo bist du denn?", rief sie lockend. Doch es blieb still.

"Hast du mich gerufen, Edeltraut? Was schreist du denn so, ich bin doch nicht taub!", hörte sie Herbert rufen. 'Oh nö!', dachte Edeltraut und ging zur Tür. Ihr Herbertchen brauchte wirklich dringend ein Hörgerät. Grad als sie in ihre Gartenschuhe schlüpfen wollte, sah sie etwas im Garten. Leise schlich sie an ihrem Frühbeet vorbei, in dem das erste zarte Grün des Salates aus der Erde schaute. Und dann erblickte sie, was sie beim Kosten des Eierlikörs fast erwartet hatte. Sie sah den leibhaftigen Osterhasen, der grinsend einen bunten Gegenstand in der Hand hielt und etwas nuschelte wie "Höher, noch höher, los jetzt!".  Edeltraut setzte vorsichtig ihre Brille auf, die sie an einer Kette um ihren Hals trug. Sie glaubte es kaum! Der Osterhase hielt kichernd einen Reifen in der Pfote und ihr kleiner Gustel versuchte hindurchzuspringen. Immer wieder, bis er es geschafft hatte. Der Osterhase klatschte, setzte sich ins Gras und Gustel legte sich ganz außer Atem neben ihn. Dann hörte Edeltraut ein Klirren und zu ihrer Verblüffung sah sie, wie die Beiden mit den zwei fehlenden, fast leeren Flaschen Eierlikör anstießen.

"Hallo Edeltraut, was geht denn hier vor? Siehst du auch was ich sehe?", hörte Edeltraut Trautzsch ihre Nachbarin Helene leise flüstern, die mit einem großen Korb Wäsche in den Händen, neben ihr am Gartenzaun stand  "Das glaubt mir kein Mensch!", murmelte Helene und starrte ungläubig auf den Osterhasen und den kleinen Dackel ihrer Nachbarn Herbert und Edeltraut.

Zur Kaffeezeit wunderte sich Herbert Trautzsch, dass Gustel vor Erschöpfung und vom Eierlikör so fest schlief und dabei leise schnarchte. Seine Frau saß mit der Nachbarin im Garten, ihr Lachen war nicht zu überhören. "Edeltraut, der Hund schnarcht!", sagte er, als er sich zu den beiden Frauen setzte. Auf dem Gartentisch standen bereits die Kaffeetassen. Da sah Herbert noch etwas -  im Gras daneben lagen zwei leere Flaschen Eierlikör. "Edeltraut! Ich dachte, die wolltest du alle zu Ostern verschenken? Also weißt du, gleich zwei Flaschen Eierlikör zu trinken!", sagte er leicht vorwurfsvoll und schüttelte den Kopf.

Nichts an diesem Tag hätte Edeltraut und Helene mehr zum Lachen bringen können, als die Unterstellung des ahnungslosen Herbert Trautzsch und die Vorfreude darauf, welchen Blödsinn der beschwipste Osterhase wieder anstellen würde.

Der Osterhase indessen war zur Bushaltestelle gehoppelt und in den Bus gestiegen. Auf den gereinigten roten Sitz, auf dem Tage zuvor Gustel das Würstchen verloren hatte, legte er ein blau gefärbtes Osterei und lachte.





Ende


PS: Danke für das Foto im Bus, meine liebe Johanna . 

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