Der Mann, der stets alleine reiste



Eugen Hartling nahm den Hörer in die Hand und brummte mürrisch seinen Namen in das Telefon, nachdem er zuvor, mit einem strengen Blick über die Zeitung, seine Frau gefragt hatte, warum diese das Telefon so lange hatte klingeln lassen. Wenn Herr Hartling von der Arbeit nach Hause kam, liebte er es, auf seinem Sessel zu sitzen und in der Tageszeitung zu versinken. Und jede Störung war für Frau Hartling ein Minuspunkt am Ende des Tages. Er arbeitete als Abteilungsleiter bei der Stadtverwaltung und war es gewohnt, dass sich auch dort alles nach ihm richtete. Frau Hartling kannte seine Sekretärin und wusste daher, dass ihr Mann keine Fehler duldete, nirgends.
Die männliche Stimme am anderen Ende des Telefons war Eugen Hartling unbekannt und ließ ihn aufhorchen.

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"Eugen Hartling", tönte es hart aus dem Hörer. Oh ja, diese Stimme hat etwas an sich, dachte der blonde Mann und lächelte. Dieses Mal hatte ihn seine Reise in eine Stadt nahe der dänischen Grenze geführt und er war in einem  Hotel mit Blick auf das Wasser abgestiegen. Die Angst vor dem Wasser war die einzige Angst die er kannte. Aber mit einem nötigen Abstand zu den Wellen, die geräuschvoll an das Ufer trafen, fühlte er sich auch jetzt Herr der Lage.

Seit ein paar Jahren hatte Norbert S. ein neues Hobby. Das Reisen war zu seiner Leidenschaft geworden. Weil er sich allerdings mit Fremdsprachen nicht auskannte und es ihm Unbehagen bereitete, wenn er nicht verstand, was die Menschen um ihn herum sprachen, reiste er ausschließlich durch Deutschland, ob Nord oder Süd, Ost oder West. Dann suchte er sich auf altmodische Weise zwei bis drei Telefonnummern der jeweiligen Stadt aus dem Telefonbuch heraus, rief dort an und stellte sich vor. Da er keinerlei finanzielle oder andere Absichten mitbrachte, bekam Norbert S. regelmäßig eine positive Antwort auf seine Bitte. Mit einem Einheimischen an der Seite lernt man am besten eine unbekannte Stadt kennen. Und mit genau diesem Satz hatte er schon einige interessante Menschen kennengelernt, deren jähes Ende stets nach einem Unfall aussahen wenn er wieder abreiste. Norbert S. war vorsichtig und hinterließ keine Spuren.

Als überzeugter Single wusste er, dass das Reisen mit einer Frau oder einem Mann an seiner Seite keinen Spaß machen würde. Er hatte schon mehrere Beziehungen geführt, war seinen Partnerinnen oder Partnern aber schnell überdrüssig geworden. Während seiner Reisen verliebte sich Norbert S. wohl schon öfters -  mal in eine Frau, die ihm in einem Kino seine Kinokarte verkauft hatte, mal in einen Taxifahrer, mal in einen Gast an der Bar oder auch in die Dame vom Empfang eines Hotels. Aber dieses Vergnügen  langweilte ihn schon nach kurzer Zeit.

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"Ich esse heute Abend auswärts, Sabine.", ließ Eugen Hartling seine Frau wissen. Er faltete ordentlich die Zeitung zusammen, legte sie zur Seite und freute sich darauf, dem fremden Mann seine Stadt zu zeigen. Diese Position gefiel ihm schon jetzt. Er würde derjenige im Auto sein, der den Weg bestimmen, die Gebäude zeigen, deren Geschichte erklären und das Restaurant aussuchen könne. Eugen Hartling duschte kurz. Das heiße Wasser färbte seine Haut rot. Anschließend roch er an seinem Handtuch, ob Sabine es  für ihn frisch zurechtgelegt hatte, zog sich um und fuhr kurze Zeit später mit dem Auto zum Treffpunkt in ein Cafè.

Die beiden Männer lächelten, als sie dort aufeinander trafen, jeder für sich wissend, dass der Andere genau perfekt für das Vorhaben zu sein schien. Ein wissensdurstiger Tourist und ein Mann, der es liebte, wenn alle zu ihm aufschauten. Nur wusste Eugen Hartling, Stadtführer für die nächsten zwei Tage, in diesem Moment noch nicht, dass es sein vorletzter Abend sein würde.

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Als Norbert S. zwei Tage später abreiste, kannte er auch diese Stadt, kannte den Hafen, das Stadtmuseum, ein Restaurant mit ausgezeichneter Küche direkt am Marktplatz, das bekannte Theater mit einer umwerfend attraktiven Schauspielerin - und er kannte eine kleine Bar, in der Eugen Hartling heute Morgen gefunden wurde. Alles sah für den Notarzt nach einem Herzinfarkt aus. Einzig Norbert S. wusste von dem Medikament, dass die gleichen Symptome hervorrief. Er dachte an seinen ersten Stadtführer, einen Apotheker, der ihm neben der Stadt auch stolz seine Apotheke gezeigt hatte. Dabei brachte er Norbert S. auf eine Idee und freute sich über dessen plötzliches  Interesse an verschiedenen Medikamenten. Norbert S. wusste seit dem wie er nervige Mitmenschen zum Verstummen brachte - auch den Apotheker.


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Und so wartete seine Sekretärin am Montag umsonst auf Herrn Hartling, genau wie die Arbeitskollegen aller anderen Angerufen in den verschiedenen Städten zuvor.

Frau Hartling jedoch war nicht ganz so traurig, wie es von ihr erwartet wurde. Sie schlüpfte in ihr einziges schwarzes Kleid und dachte beim Blick in den Spiegel, dass ihr schwarz eigentlich ganz gut stehe ....


Ende
 

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