Ein unvergessliches Studientreffen

 


Der Weg, der vom Hotel hinauf zum Waldcafè "Hirschgarten" auf den Berg  führte, zog sich ungefähr 6 Kilometer durch den Thüringer Wald. Die inzwischen grauhaarigen Männer hatten in all den Jahren nie wirklich herausgefunden, wie lang der Weg tatsächlich war. Früher, als junge Studenten an der Universität, wanderten sie mit Flausen im Kopf - und später, auf ihren jährlichen Studientreffen, gab es unterwegs jede Menge zu erzählen. Doch seit Google jeden Ort auf der Welt ausfindig gemacht und jede Stecke ausgemessen hatte, wussten die Männer, dass exakt 6, 7 Kilometer vor ihnen lagen.

So sagten zu diesem Treffen nur sieben Männer von den einst über 20 Studenten der Seminargruppe zu.  Mit den Jahren waren es immer weniger geworden. Ein paar Kommilitonen kamen einfach nicht, einige lebten inzwischen nicht mehr und manch einer war den Strapazen des Wanderns einfach nicht mehr gewachsen.

Gerhard zum Beispiel, der mit Dieter als Schlusslicht der Gruppe lief, achtete heute sehr genau darauf, wohin er seinen Fuß setzte. Seine Knie- OP war zwar schon ein paar Wochen her aber er war seit dem vorsichtiger geworden. Er musste seiner Hannelore noch der Abfahrt zum Studientreffen versprechen, sich regelmässig bei ihr zu melden.

Dieter war auch nicht schneller, hatte aber keine gesundheitlichen Probleme, sondern blieb stets und ständig stehen, um mit seiner Kamera Fotos zu machen und all die Momente festzuhalten, die den Wald in einem besonderen Licht zeigten.

Eine Weile wanderten sie entlang eines Baches. Das glasklare Wasser  plätscherte friedlich neben ihnen her. Am Rand des Baches wuchsen im Schatten verschiedene Farne und weiches Moos. Auch hier blieb Dieter stehen und machte unzählige Fotos. Die satten Grüntöne faszinierten ihn immer wieder. "Ich bin unglaublich begeistert und kann gar nicht aufhören dies alles mit der Kamera festzuhalten.", meinte er zu den anderen, die auch stehengeblieben waren. Sie atmeten die frische Luft ein und hielten ihre Gesichter in die Sonne. Es war ein schöner und friedlicher Moment.



Lothar, der einst Klassenbester war, und den alle seit ihrer Jugend nur den schlauen Lothar nannten, ging mit Heiner voran, dessen hungriger Magen sich bereits bemerkbar machte. Heiner freute sich schon jetzt auf ein warmes Gericht im "Hirschgarten" und Werner, der im Mittelfeld lief, trug einen Rucksack mit etlichen Wackelmännern auf dem Rücken. "Pause, liebe Freunde.", rief dieser und setzte klirrend seinen Rucksack ab.

Nachdem sich alle mit einen Wackelmann gestärkt hatten, ging es weiter. Manfred stimmte dazu ihr altes Wanderlied ein und so trällerten sie wie jedes Jahr auf dem Weg hinauf zum Waldcafé ihr Lied. Die Männer erfreuten sich immer wieder an der Natur, machten öfters eine kurze Rast und leerten den Inhalt aus Werners Rucksack. Die Sonne an diesem Herbsttag meinte es anfangs zwar noch gut aber im Schatten war es bereits recht frisch.

Dieter, der während der ersten Stunde oft angehalten und Fotos gemacht hatte, bemerkte als Erster den Wetterumschwung. Wo vorhin noch traumhafte Aufnahmen von Licht und Schatten entstanden waren, gab es keine lichten Unterschiede mehr zwischen den hohen schlanken Baumstämmen. Er legte seinen Kopf in den Nacken, schaute in den Himmel und dann fragend in die Gruppe. "Ich glaube wir sollten etwas zügiger gehen. Gerhard, was denkst du? Geht das?",  Wolken waren aufgezogen, hier in den Bergen änderte sich das Wetter rasch.

Pitschnass erreichte die Gruppe das Waldcafè. Sie mussten Rücksicht auf Gerhard's Knie nehmen und waren dadurch länger als all die Jahre zuvor unterwegs hinauf auf den Berg. "Was bringt ihr denn für ein Wetter mit? Schnell rein in die gute Stube.", begrüßte sie die Wirtin, eine vollbusige Frau mit einem langen schwarzen Zopf und dem Herz auf dem rechten Fleck. Sie kannte die  Rentner schon viele Jahre und begrüsste die ehemaligen Studenten mit heißen Getränken. Sie reichte jedem ein sauberes Geschirrtuch, wenigstens um die Köpfe zu trocknen. Mit strubbeligen Haaren saßen die Männer an ihrem Stammtisch und wärmten sich am Kamin auf. Rasch trockneten die Jacken über den Stuhllehnen - aber auch die Haare, Hosen und Schuhe.

Gerhard sah auf seinem Handy acht verpasste Anrufe von seiner Hannelore. Doch im Wald und auch hier oben im Waldcafè "Hirschgarten" gab es keinen Empfang und er konnte nicht zu Hause anrufen. "Lass gut sein, Gerhard, du kannst nachher vom Hotel aus anrufen", beruhigte ihn Manfred. Nach einer gewaltigen Portion Hirschgulasch mit Grünkohl und Klößen wanderte die Gruppe wieder trocken, zufrieden und mit vollen Bäuchen zurück ins Tal. Die Luft war klar und im Wald stieg nun dichter Nebel auf. 


Als sie das Hotel fast erreicht hatten, bemerkte Günther, der sich mit Gerhard ein Doppelzimmer teilte, dass dieser nicht bei der Gruppe war. Günther blieb stehen und schaute sich suchend um, "Gerhard, Geeeeerhard". Doch der Freund blieb verschwunden. Manfred wählte seine Nummer, doch es gab noch immer kein Netz. "Das hätte ich dir gleich sagen können. Hier ist doch kein Netz.", sagte der schlaue Lothar. Die Gruppe war ratlos. "Was machen wir jetzt? Sind wir nicht eben an einen Hochsitz vorbeigekommen?", fragte Heiner und lief zurück. Er kletterte die wackelige Holzleiter hinauf. Vom Hochsitz aus konnte er zwar seine Freunde sehen - aber keinen Gerhard.

"Wir müssen zum Hotel und dort die Polizei anrufen. Bald wird es dunkel, wir haben nicht mehr viel Zeit.", rief der schlaue Lothar in die aufgeregte Runde. Bedrückt erreichten sie wenig später die Rezeption im Hotel. Lothar griff zum Festnetztelefon und rief die Polizei an. Mit knappen Worten schilderte er die Situation. "Wenn das die Hannelore erfährt.", flüsterte Günther.

Die Hundestaffel brauchte nicht lange bis sie einsatzfähig war und durchkämmte bereits den Wald. In der Dunkelheit flackerte das Blaulicht der Einsatzwagen. Heiner sah aus dem Fenster, ihn erinnerte die Szenerie an eine Folge aus der TV Serie "Polizeiruf 110".

Draußen hupte ein Auto. "Günther, Heiner, Lothar? Wo seid ihr denn alle?", hörte Heiner eine ihm bekannte Stimme. Er rannte überstürzt die Treppe herunter und Gerhard entgegen. "Was ist denn hier los?", fragte dieser verblüfft. "Mensch Gerhard, wo warst du denn? Wir suchen dich überall!". Gerhard lehnte sich an einen Sessel, sein Knie schmerzte. "Als ich im "Hirschgarten" von der Toilette kam, ward ihr schon weg. Die Wirtin hatte mir angeboten, ich könne zum Feierabend mit ihr im Auto ins Tal fahren. Das kam mir bei dem Wetter und mit meinem Knie ganz gelegen.", antwortete er verlegen. In diesem Moment schien sein Handy Empfang zu haben, denn es klingelte energisch mit der Titelmelodie vom "Weißen Hai" - es war Hannelore!

Die Männergruppe versammelte sich wenig später in der Bergstube neben dem Restaurant im Hotel. Lothar verspätete sich etwas, es war ihm noch sehr wichtig gewesen, einem der Hundeführer unbedingt die Haltung eines Schäferhundes zu erklären. Sie alle waren froh, dass Gerhard wohlauf war und sich das Missverständnis aufgeklärt hatte. Sie hoben ihre Gläser und stießen auf ihre Freundschaft an und auf ihr fünfzigstes Studientreffen. PROST!

Ende

Für meinen Vati zum 80. Geburtstag 🥂

PS: Alle Charaktere und Namen sind fiktiv.


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