Edeltraut Trautzsch's Hauptgewinn


Es war kalter und nebliger Morgen,  als Helene ihre Nachbarin Edeltraut Trautzsch, deren Mann und zwei große Taschen zum Reisebus brachte. Die Kälte an diesem grauen Januarmorgen ließ alle drei frösteln. Helene war froh, als sie wieder in das warme Auto steigen konnte. Sie hupte, winkte und fuhr zurück nach Hause.


Edeltraut Trautzsch hatte wenige Tage zuvor, wie jedes Jahr, von ihrem Ehemann ein Los geschenkt bekommen. Fast war es zu einer Tradition in der Familie geworden, wenn Frau Trautzsch am Neujahrsmorgen dann das Los ausrollte und lachend sagte: "Und wieder eine Niete!". Doch in diesem Jahr war es keine Niete sondern der Hauptgewinn - eine Busreise für zwei Personen in die Tiroler Berge.

Und nun standen die Beiden zusammen mit mehreren anderen aufgeregten Rentnern an der Bushaltestelle. "Winterzauber in den Bergen" hieß das Motto dieser 7tägigen Reise.  Die feuchte Luft tat Herrn Trautzsch gar nicht gut, er bekam davon "so ein schlimmes Reißen in den Knochen", wie er dann sehr oft und sehr gern sagte.

Langsam rollte der Bus von der Hauptstraße auf den Parkplatz. Als sich die Türen öffneten, erblickten die Wartenden neugierig zwei unterschiedlich große Männer, die nacheinander ausstiegen. 'Wie der kleine und der große Klaus', dachte Edeltraut und erinnerte sich an den Klassiker von 1971, als sie diesen hochschwanger im Fernsehen gesehen hatte. Die beiden Kläuse stellten sich als  die Brüder Sprosswinkel und als die  gemeinsamen Inhaber des Reiseunternehmens "Sprosswinkel's Weltreisen" vor. Sie hatten das Reisebüro erst im November eröffnet.

Der kleine Bruder hatte eine Liste in der Hand und hakte die Namen all derer ab, die er aufrief und bat einzusteigen. Nachdem er sich bei "Herbert Trautzsch" mehrfach verhaspelt hatte und dachte, schlimmer könne es kaum werden, verfehlte er mit "Edeltrautzsch" ihren wahren Namen. Edeltraut lächelte dabei, wie immer wenn jemand sie aufrief, und setzte sich im Reisebus neben ihren Mann. Vor ihr saß eine gepflegte ältere Dame mit einer feinen Pelzstola.

Nach drei Stunden, als sich die Klaus-Brüder hinter dem Lenkrad bereits zum ersten Mal abgewechselt hatten, gab es auf einem kleinen Parkplatz eine längere Pause und für jeden einen Becher dampfenden Kaffee. Frau Trautzsch sah die lange Schlange vor dem Damen WC und seufzte. Edeltraut, ein robuste, vollbusige Mittsiebzigerin, die mit ihrem erfrischenden Lachen jeden in ihren Bann zog, ging daraufhin eine Tür weiter auf ein anderes WC ohne Warteschlange. Dort nickte sie dem großen Klaus zu, der sie verblüfft anstarrte und zuckte mit den Schultern. Edeltraut fragte sich, warum es nie solche langen Schlangen vor dem Herren- WC gab.

Während der weiteren Fahrt plauderte sie des öfteren mit der gepflegten Dame, die vor ihr saß. Herr Trautzsch hatte seinen Kopf an das Busfenster gelehnt und schnarchte neben ihr. Bei München gab es den nächsten Halt mit lauwarmen Bockwürsten. Bald danach waren die ersten Berge zu sehen. Die gepflegte Dame drehte sich zu Edeltraut und bat sie um einen Pfefferminzbonbon, weil ihr übel war. Sie vertrug lange Busfahrten nicht so gut und war nur den Frauen ihrer Kegelgruppe zuliebe mitgefahren. Als der Bus in Österreich von der Autobahn abfuhr und die Straßen in den Bergen immer enger und kurviger wurden, half auch kein Pfefferminzbonbon mehr und die lauwarmen Bockwürste fanden ihren Weg zurück - allerdings in die Kapuze des ihr unbekannten Herren, der neben der gepflegten Dame saß.

Kurz vor dem Ziel, zumindest laut Navi und der beiden Kläuse, musste der Bus samt seiner Insassen eine knappe Stunde warten, weil die Schneeräummaschinen nicht so schnell hinterher kamen, um die Straßen zu räumen. Ein säuerlicher Geruch breitete sich von der Kapuze durch den ganzen Bus aus. Wegen der längeren Wartezeit kam der Bus erst in der Dunkelheit zum Hotel.

Kennt ihr den Spruch "Nachts sind alle Katzen grau"? So ist es auch mit Hotels in der Dunkelheit. Sämtliche Außenbeleuchtungen rücken alles in Szene. Eben auch vor diesem Hotel. Alle Fahrgäste stiegen aus und stapften durch den tiefen Schnee auf den beleuchteten Eingang des Hotels "BERGRUH" zu. Allerdings war das Licht bei den beiden Buchstaben "R" und "H" ausgefallen, so dass ein "BERGU" die Gäste erwartete. Niemand hatte sich die Mühe gemacht den Weg vom Parkplatz zum "BERGU" von den Schneemassen zu befreien. Frau Trautzsch beobachtete wie große Klaus etwas zu hektisch und wild gestikulierend an der Rezeption die Anwesenheit der Gäste klärte und für die Zimmer sorgte, während der kleine Klaus die Koffer und Taschen der Reisenden aus dem Bus holte. Die gepflegte Dame mit dem feinen Pelz spülte mit einer Flasche stillem Wasser erneut ihren Mund aus. 

Obwohl das Jahr schon vier Wochen alt war, entging es Edeltraut Trautzsch nicht, dass sich das ganze Hotel noch in der Weihnachtsdeko befand. Flink suchte sie im Bad ihre Ohrenstöpsel in ihrer Waschtasche und machte sich für die Nacht zurecht. Die Betten waren weich und das Schnarchen ihres Gatten dank der Ohrenstöpsel schien weit weg zu sein. Edeltraut Trautzsch war sofort eingeschlafen.



Der nächste Morgen wirkte dann jedoch ernüchternd. Im Tageslicht sah das in die Jahre gekommene Hotel weit weniger schön aus, als am späten Abend zuvor. Die Dusche ächzte und das Handtuch roch wie der nasse Hund ihrer Freundin Sieglinde, wenn es regnete. Nach noch nicht mal drei Minuten stand Edeltraut knöcheltief im Wasser, das aus der Duschwanne nicht ablief. Sie rief nach ihrem Mann, doch Herbert Trautzsch hörte ihr verzweifeltes Rufen nicht. Er stand in seinem weißen, feingerippten Unterhemd und seinen dunkelgrünen Boxershorts, die er stets bis weit über seinen Bauchnabel zog, am geöffneten Fenster. Dort machte er seine Morgengymnastik und blickte dabei in die Berge. "Aber schön ist es hier schon", erklärte er seiner Edeltraut außer Atem. Edeltraut seufzte und nahm sich vor, später an der Rezeption nach einem Saugpümpel zu fragen.

Im Frühstücksraum war es warm und gemütlich. Die eingedeckte Tafel für die "Winterzauberreisegruppe" war einladend. Allerdings schien das eine Ausnahme zu sein, denn wie Frau Trautzsch feststellte, galt hier im Frühstücksraum für alle anderen Gäste Selbstbedienung. Edeltraut wurde langsam misstrauisch, irgendetwas stimmte nicht. Auf ihre Frage "Herbert, siehst du das?", hörte sie nur sein vorwurfsvolles "Edeltraut, der Kaffee ist kalt!" und beließ es dabei.

Satt und zufrieden stiegen alle Reisenden nach dem Frühstück in den Bus. Der kleine Klaus schwärmte von dem Ausflug in ein kleines Bergdorf mit einem Terrassencafè und einem herrlichen Blick in die Berge. Die Fahrt sollte lediglich zwanzig Minuten dauern. Die gepflegte Dame, die wieder vor Edeltraut Trautzsch saß, hatte heute vorsorglich eine Tüte bei sich, in der zuvor ihre Badelatschen eingepackt waren. Statt zwanzig Minuten war der Reisebus zwei lange Stunden unterwegs. Die Badelatschentüte war voll, die Dame weinte und der Bus fuhr erst jetzt das kleine Bergdorf an. Der große und der kleine Klaus stritten leise miteinander.

Der Reisebus parkte neben einem kleinen Wintermarkt im Zentrum. Wo wenige Wochen zuvor noch Weihnachtskugeln und Tannengrün an den Buden hingen, drehten sich nun weiße Schneeflocken aus Styropor. Der magere Weihnachtsmann war durch einen dicken Schneemann ersetzt worden, der stets pfiff und "Oh lá lá" sagte, wenn eine schöne Frau an ihm vorbei ging. Edeltraut ging mehrfach an ihm vorbei und lächelte bei jedem "Oh lá lá". Der Tag konnte nicht schöner werden.

Doch das wurde er, als die Reisegruppe das Terrassencafè erreichte. Der Blick von dort in die Berge war traumhaft schön. Das Cafè hieß ebenfalls "BERGRUH" und befand sich am Ufer eines zugefrorenen Bergsee's. Alle Bäume und Sträucher waren durch das Weiß von Schnee und Frost verzaubert; wie gepudert sah die Landschaft aus. Die Sonne schien vom nun wolkenlosen Himmel. Edeltraut dachte an die Fotos, die das Reiseunternehmen ihr zugeschickt hatte. Vor Antritt der Fahrt war sie noch überzeugt, dass es sich bei den Bildern um Fotomontagen handeln würde - ein solch blauer Himmel, dazu die verschneite Winterlandschaft .... Doch jetzt stand sie inmitten dieses Winterzaubers und machte Fotos für ihre Freundinnen aus dem Lesezirkel. "Herbertchen, ist das nicht schön hier?", rief sie und drehte sich suchend nach ihm um. Doch Herbertchen war im Gespräch mit einem Eisangler, der ihm erklärte, welche Fische man in diesem See angeln konnte.



Einen Glühwein später, erklärte die Besitzerin des Terrassencafè's den Gästen, dass es fast in jedem Ort ein Hotel oder ein Haus "BERGRUH" gibt. Und auch, dass es viele kleine Städte in Tirol gibt, die den gleichen Namen tragen. Dem kleinen Klaus fiel bei dieser Aussage sein Glühwein aus der Hand und der große Klaus blätterte hektisch in einer Broschüre - hier in den Bergen gab es kein Internet, es blieb nur die analoge Suche im Atlas. Da wurde der große Klaus blass. Und Edeltraut, die ebenfalls den Zusammenhang verstand, lächelte wissend. Alles fügte sich zusammen. Sie  waren mit dem Reisebus zwar im Hotel "BERGRUH" und auch in einem Ort Namens Kirchberg. Aber Orte mit dem Namen Kirchberg gibt es in Österreich eben wie Sand am Meer.

Am Abend hielt der Reisebus auf dem Parkplatz vor dem richtigen Hotel in der richtigen Stadt. Hier war der Schnee geschoben, die Leuchtreklame zeigte funktionstüchtig alle Buchstaben des Hotels an und die Handtücher dufteten frisch gewaschen. Das Nachtessen nahm die Reisegruppe später in der gemütlichen "Bergstube" ein und die beiden Kläuse entschuldigten sich bei einem leckeren Käsefondue noch einmal in aller Form für die Verwechslung.

Als Edeltraut weit nach Mitternacht auf ihrer weichen Matratze lag, lächelte sie. Durch das Hotelfenster schien das helle Mondlicht, das zusätzlich durch die weiße Schneepracht reflektiert wurde. Während sie dem gleichmäßigen Schnarchen ihres Gatten lauschte, dachte sie an die letzten Tage und wie unvergesslich und lustig diese Reise am Ende sein würde. Und sie dachte lächelnd daran, dass es in diesem Hotel einen Fitnessraum gab, in dem Herr Trautzsch künftig seine Morgengymnastik machen würde - aber nicht in Feinripp und Boxershorts. Sie würden gleich morgen Vormittag in einem Shop für Indoor Sport atmungsaktive Sportwäsche für Herbertchen kaufen. Kurz darauf war Edeltraut Trautzsch auch eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin. 

Ende

PS: Auch diese Geschichte ist fiktiv und bezieht sich weder auf Schnarcher noch auf Angler, auch nicht auf
Kegelgruppen oder feine Damen mit Pelz .....  😊. Über rein zufällige Ähnlichkeiten darf gern auf die altbekannte liebenswerte Weise geschmunzelt werden.

Eure Henriette







Kommentare