Das zweite Weihnachtspaket 🎁🎄🕯🕯




"Die Knie laufen links herum im Kreis und die Hüften laufen rechts herum!", ertönte es aus dem Sportraum der Rehaklinik "Sport frei an den Dünen". Die Stimme der motivierten Physiotherapeutin klang streng. Helenes Mutti stöhnte und fragte sich, ob diese Physiotherapeutin früher wohlmöglich Ringerin oder Sportlehrerin bei der Bundeswehr war.

"Frau Hellmann nun schauen Sie doch einmal etwas freundlicher!", klang erneut die nüchterne Stimme. Frau Hellmann biss die Zähne zusammen und dachte an den Tag zurück, an dem sie auf dem Weg zu ihrer Tochter Helene vom Fahrrad gefallen war und sich bei dem Sturz den Bruch des rechten Oberschenkels zugezogen hatte. 'Ich habe weder Hüfte noch Knie und lächeln will ich schon gar nicht!', dachte sie. Einzig das Rauschen der Ostseewellen, das durch das angekippte Fenster zu hören war, ließ Frau Hellmann lächeln. Sie liebte diese beruhigende  Melodie, dieses gleichmäßige Rauschen. Früher war die Familie jeden Sommer an die Ostsee gefahren und Helene hatte mit ihrer Schwester am Strand die höchsten Kleckerburgen gebaut. Nun waren ihre Töchter erwachsen und hatten selbst Familien.

Erschöpft saß sie später in der Lobby der Rehaklinik und blickte auf den  geschmückten Weihnachtsbaum. Die vielen bunt verpackten Weihnachtspäckchen darunter waren leere Schuhkartons und nur zu Dekozwecken dort drapiert worden - manche sicher schon seit vielen Jahren, sie waren von der Wintersonne an den Seiten schon ganz ausgeblichen. Frau Hellmann seufzte, sie wäre viel lieber zu Hause. Über Weihnachten in der Reha und die Familie war fern. Doch morgen würde ihr Mann anreisen, er hatte über Weihnachten ein Zimmer in der nahen Pension "Zum Meerblick" gebucht.

"Na, och keene Lust auf dit allet?", fragte die immer heitere Berliner Rentnerin Renate, der sich einen bunten Hohlkörper aus Schokolade in den Mund schob. In diesem Moment kam die Stationsschwester vorbei und warf den Beiden einen strengen Blick zu "Denken Sie an Ihre Blutfettwerte, meine Damen!". Wieder seufzte Frau Hellmann. Im Foyer ging die Deckenbeleuchtung an, obwohl es noch gar nicht so spät war. Über der Ostsee hatten sich die Wolken zu hohen Türmen aufgebaut.

Als es vor der Rehaklinik hupte, erblickte Frau Hellmann durch das Fenster das gelbe Postauto. Der Fahrer öffnete die Tür und brachte Unmengen von Briefen und Paketen herein. "Sie sind heute aber ziemlich spät dran!", ermahnte ihn die Stationsschwester unfreundlich und ließ den atemlosen Mann stehen. Der freundliche Herr von der Rezeption rollte mit den Augen und ging dem Postboten hilfsbereit entgegen.

"Moin! Alles kam heute zu spät im Verteiler an, die Straßen sind total glatt und wenn ich die dicken Wolken sehe .... es riecht bereits nach Schnee.", meinte der Postbote und grinste, "Oh man, die Stationsschwester ist ja heute wieder auf Krawall gebürstet!".

Frau Hellmann beobachtete die beiden Männer. "Schick, der Typ von der Post wa?", lachte die Berliner Rentnerin und stupste Frau Hellmann an. Jedoch Frau Hellmann hatte nur Augen für die Pakete, wusste sie doch, dass Helene ihr ein Weihnachtspäckchen schicken wollte. Und tatsächlich. "Frau Hellmann, Frau Hellmann.", winkte der Herr von der Rezeption. Alle Patienten schauten zu ihr. Dann ging es weiter, der Rezeptionist war ein humorvoller Mann, der mit Freude täglich die Post verteilte und mit seiner lustigen Art die Menschen in der Lobby begeisterte. Die  Patienten ließen sich von seinem Witz anstecken und fingen bei jedem Brief oder Paket an zu klatschen und jubelten bis alles verteilt war. Der Stationsschwester waren solche Flausen schon lange ein Dorn im Auge, war sie doch stets um Disziplin und Ruhe bemüht. Nur die Berliner Renate hatte keinen Gruß von zu Hause bekommen.

"Ist da etwa Schokolade drin?", fragte die Stationsschwester, als sie am Abend ihre Runde durch die Patientenzimmer drehte und das Paket auf Frau Hellmanns Bett liegen sah. Helenes Mutti tat, als hätte sie die vorwurfsvolle Frage nicht gehört. Sie war dabei sich im Bad bettfertig zu machen und drehte einfach die Dusche an. Und schon übertönte die laute Dusche die strenge Stimme der Schwester, deren Kittel recht eng an deren fülligen  Körper anlag.

Nachdem Frau Hellmann mit ihrem Mann seine morgige Ankunft am Telefon besprochen hatte, stand sie am Fenster und sah dem einsetzenden Schneetreiben zu. Sie dachte zurück an die Zeit, als sie sich im Advent nichts sehnlicher gewünscht hatte, als eine weiße Weihnacht.

Am Morgen hörte sich die Welt durch das Fenster ganz anders an, alles war leiser, gedämpfter - nur nicht das Rauschen der Wellen. Diese Melodie klang wie an jeden Morgen der letzten zwei Wochen. Frau Hellmann humpelte zum Fenster und freute sich über die weiße Pracht. 'Hoffentlich kommt der Zug auch pünktlich an.', dachte sie besorgt.

Im Speisesaal lag auf allen Frühstückstellern eine Weihnachtsserviette und darauf ein Schokoladenweihnachtsmann. Die Berliner Rentnerin Renate, die mit Frau Hellmann an einem Tisch saß, ließ sich diesen bereits schmecken und freute sich, als sie von Frau Hellmann diese kleine Süßigkeit geschenkt bekam. Weihnachtliche Musik vom Dresdner Kreuzchor tönte leise durch die Lautsprecher und verströmte unter den Patienten eine willkommene Weihnachtsstimmung.

Der Zug erreichte mit zwanzig Minuten Verspätung den Kurort und das Ehepaar Hellmann konnte so den Weihnachtsabend zusammen verbringen. In Helenes Weihnachtspäckchen waren  selbstgebackene Weihnachtsplätzchen und eine leckere Butterstolle. Die getrockneten Zweige mit den zarten Talern vom Silberblatt stellte Frau Hellmann in ihr Trinkglas. Liebevoll verpackt lag in dem Weihnachtsgeschenk noch ein weicher Schal mit einer passenden Mütze und warmen Handschuhen - und ein neues Foto von Frau Hellmanns Enkelkindern Ada und Albert. Besonders freute sie sich über den Weihnachtsbrief, den Helene ihrer Mutti geschrieben hatte. Da das Netz in der Rehaklinik nicht stabil genug war, konnten sie nur selten telefonieren oder sich nur selten Nachrichten schicken. "Wenn da mal nicht die Stationsschwester ihre Hände im Spiel hat... ", sagte daraufhin Frau Hellmann lachend zu ihrem Gatten. Und sie lachte noch mehr, als sie sich vorstellte, wie die Stationsschwester sich aufplustern würde, wenn diese dazu käme, wie Frau Hellmann und Renate aus Berlin die Butterstolle gemeinsam verputzen würden.






Ende


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