Zwischen Mondlicht und Sonnenaufgang


Während Matteo in dieser Nacht seinen letzten Dienst für diese Woche im Rettungswagen fuhr, hörte auf der Entbindungsstation eine junge Frau den ersten Schrei ihres Babys, nachdem sie stundenlang in den Wehen gelegen hatte. Und zur gleichen Zeit, in dem Pflegeheim zwei Straßen weiter, direkt hinter den drei Pappeln, schloss ein alter Mann für immer seine Augen, er war müde von dem langen Leben, das hinter ihm lag. Ein Leben begann, ein anderes endete. 

Im schwachen Licht der Straßenlaternen und der wenigen beleuchteten Fenster jener Wohnungen, in denen Menschen nicht schlafen konnten, ein Buch lasen, ihr Kind trösteten oder sich liebten, brachte Matteo nach einem Notruf den letzten Patienten seiner Schicht in die Herzklinik am anderen Ende der Stadt. Zwischen Mondlicht und Sonnenaufgang kann es leise und laut sein, dachte er.

Matteo hatte zuvor lange im stationären Bereich gearbeitet. Jedoch war das Klima im Krankenhaus mit den Jahren immer anstrengender geworden. Was ihn am meisten störte und traurig gemacht hatte, war der immer grösser werdende Verlust von Respekt und Wertschätzung. Hier in seinem Rettungswagen musste er niemandem etwas beweisen, er kam zu den Kranken, rettete oder versorgte sie so gut er konnte und kannte inzwischen jeden Winkel der Stadt.

Laut dem Wetterbericht sollte  heute der letzte heiße Tag dieses Spätsommers werden - er bedauerte dies sehr, liebte er doch die lauen Sommernächte. Besonders dann, wenn er mit seinem Segelboot über den Bodensee segeln konnte. Dort konnte er vom Alltag abschalten und seinen Gedanken nachhängen. Schon so manches Mal hatte er diesen einen Punkt gesucht, der sein persönlicher Mittelpunkt im Bodensee zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz sein könnte. Offiziell gab es diesen nicht, der Bodensee gehörte zu allen drei Ländern.

Und wenn er auf dem Wasser dachte, er wäre genau dort an diesem Punkt, dann  sinnierte er darüber, was er am liebsten sein würde: ein Deutscher, ein Schweizer oder ein Österreicher. Auf jeden Fall wollte er hier sein. Matteo liebte die Natur rings um den Bodensee, das Ufer, die Berge, das Wasser und die kleinen Orte zwischen den größeren Häfen.

Nach einer erfrischenden Dusche zog Matteo seine Jeans und ein frisches Shirt an und stieg auf sein Fahrrad. Das Mondlicht hatte sich zurückgezogen und dem Sonnenaufgang Platz gemacht. Er genoss es, sich zum Feierabend frei zu fühlen und fuhr die Straße an den drei Pappeln vor dem Altersheim vorbei. Etwas später winkte Matteo der jungen Verkäuferin, die in diesem Moment die Ladentür zur Backstube aufschloss, und stieg von seinem Fahrrad. Er lächelte, als er ihre Verlegenheit bemerkte, ihre geröteten Wangen sah und wie sie ihn mit ihren graublauen Augen anblickte. Nach einem kurzen Smalltalk nahm er die braune Papiertüte mit den noch warmen Semmeln entgegen. Diesen Extraeinkauf bekam nur Matteo, denn erst in einer Stunde, wenn die ersten Touristen mit ihren Hunden an den Leinen Gassi gehen würden, beginnt die reguläre Geschäftszeit der Backstube.

Matteo fuhr direkt zum Bootsanleger, an dem sein Boot im Sonnenaufgang schaukelte. Er freute sich auf seine zwei freien Tage. Es war noch ruhig auf dem Bodensee, noch waren die Fähren nicht unterwegs, die die zahlreichen Touristen von einem Ufer zum anderen brachten oder Fahrten in den Sonnenuntergang machten. Eine Möwe saß auf einem Pfosten am Steg und schaute ihn neugierig an. Er raschelte mit dem Papier der Brötchentüte und musste lachen, als die Möwe dabei unruhig von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Zufrieden und vorerst gesättigt, flog sie kurze Zeit später schreiend davon.

Matteo war unschlüssig, wo er frühstücken würde. Einerseits liebte er es mitten auf dem See zu sitzen, einen großen Becher Kaffee in der Hand und auf das Ufer zu schauen. Aber das Grün des Schilfes, die hohen Bäume, die noch höheren Berge dahinter und das sanfte Schaukeln im Schutz des grünen Gürtels am Ufer - all das mochte er genauso. Bald würden feine Spinnennetze zwischen den Gräsern den Altweibersommer einläuten. Sein knurrender Magen machte ihm die Entscheidung leicht.

Er schaute auf den Bodensee, der wie ein kleines Meer vor den Alpen lag. Je nach Wetter und Tageslicht schimmerte das Wasser türkis oder graublau - graublau wie die Augen der jungen Frau in der Backstube. Matteo hielt einen Moment inne und stellte fest, dass diese Frau mit ihrer offenen und natürlichen Art immer öfters in seine Gedanken schlich. Vielleicht frage ich sie nach ihrer Telefonnummer, dachte er.

Kurze Zeit später war sein Frühstück fertig und er segelte hinaus auf den See, die Möwe begleitete ihn ein Stück. Matteo genoss die Ruhe und das sanfte Schaukeln in der Mitte zwischen den drei Ländern, die den Bodensee umgaben. Er dachte immer weniger an die Lebenden und die Sterbenden, dafür um so öfter an das Lächeln der jungen Frau. In einer kleinen Bucht bei Nonnenhorn schwamm er im kühlen Wasser, schlief in seiner Koje, las in einem Buch und stieß einen Freudenschrei aus, als er einen Zander an seiner Angel hatte. Diesen bereitete er sich zum Abendessen zu und segelte fast geräuschlos im Sonnenuntergang zurück zum Bootssteg, wo ihn die Möwe bereits erwartete.

Weil er am morgigen Tag noch frei hatte, blieb er auf seinem Boot. Manchmal raschelte es im Schilf. Ab und zu hörte er ein Lachen aus einem der Restaurants in der Nähe und sah in der Ferne ein kleines Feuerwerk. Die Lebenden feiern, dachte er. Weit nach Mitternacht klappte er sein Buch zu und legte es zur Seite. Matteo schaute auf den Bodensee. Ihn faszinierte die nun silbrig glänzende Wasseroberfläche im hellen Schein des Mondes. 


In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen. Wieder war es die Zeit zwischen Mondlicht und Sonnenaufgang. Heute würde er ausschlafen, erst später seine Semmeln holen - und in die graublauen Augen schauen. Er freute sich darauf und bemerkte, dass die junge Frau es geschafft hatte, seine Arbeit, das Leben und Sterben in den Hintergrund zu drängen.

Ende





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