Eine Piemontgeschichte



Als sich die ältere Dame das hellbraune Kleid, mit der feinen aufgestickten Spitze und den kleinen Perlen überstreifte und danach an sich glatt strich, zog sie den Bauch etwas ein. Sie lächelte zaghaft und straffte ihre Schultern. Fast hatte sie in all den vielen Jahrzehnten ihre mädchenhafte Figur behalten. Über 80 Jahre lang! Und heute war ihr 83. Geburtstag. Ihr Haar trug sie hochgesteckt, sie hatte sich immer dagegen gewehrt, es im Alter kürzer  schneiden zu lassen.

Noch heute Morgen war Gaja durch die Reihen der Haselnussbäume gegangen, hatte hier und dort Stichproben genommen und die warme, würzig duftende Luft des Piemont eingeatmet. Sie liebte das dunkle Grün der Blätter an den  Haselnussbäumen und dazu im Kontrast die zarte blassgrüne Haut, die anfangs die wachsenden Nüsse umhüllte. Später dann das satte Braun, wenn die Haselnüsse reif waren - ja, das mochte Gaja sehr. Die Erdtöne und überhaupt die Erde hier. Hier war das Land ihrer Familie, der Haselnusshain. Und weiter hinten wuchsen die roten Trauben an den Weinhängen der Nachbarn für den bekannten BARBERA D'ASTI.

Die Haselnüsse haben den besonderen Geschmack aus dem Piemont. Sie schmecken frisch geknackt und sind für den Grappa und die süße Seite Italiens kaum mehr wegzudenken. Ob in Schokolade, in Haselnusscremes, im Speiseeis (dem Gelato)  oder im leckeren Nougat. Schon Gajas Großeltern hatten die piemontesischen Haselnüsse entdeckt und mit dem Anbau, der Ernte und dem Verkauf ihren Lebensunterhalt verdient. Heute Vormittag war eine blasse Donna vorbeigekommen, die regelmäßig ein Glas der besonderen Nussnougatcreme kaufte, die Gaja eigenhändig in ihrer Küche herstellte und die Etiketten noch selbst beschriftete.

Gaja dachte zurück an ihre Kindheit. Mühsam aber schön war die Zeit, die sie mit ihrem Bruder und den Eltern hier erlebte, stets hatte sich alles um die Haselnüsse gedreht. Doch es hatte sich gelohnt, auch wenn die Familie bescheiden blieb, wie viele der Bewohner dieser Region. Gaja hatte über all die Jahre die Postkarten aufgehoben, die sie bekam, wenn die Menschen, die die Nüsse zu Hause probierten, ihr voller Freude dankbar davon schrieben.

Das Schicksal hatte es jedoch nicht so gut mit der Familie gemeint. Die Eltern starben kurz nacheinander und Gajas Bruder vor zehn Jahren, als er arg gestürzt war und sich davon nicht mehr erholte. Übrig blieben Gaja und die Kinder ihres Bruders, zu denen sie wenig Kontakt hatte.

Eigene Kinder waren Gaja nicht vergönnt. Der Mann, den sie liebte, durfte nicht der ihre werden und weil sie ihn über all die Jahre noch immer im Herzen trug, war sie allein geblieben. Sie hatte eine alte Fotografie von ihm, die in ihrem Nachttisch lag und die sie jeden Abend zur Hand nahm und liebevoll betrachtete.

Soweit es Gaja möglich war, verrichtete sie den Haushalt selbst, nur manchmal half ihr Iva, die jüngste Tochter der Nachbarn. Im Betrieb führte Gaja die Buchhaltung noch immer alleine. Die Angestellten, die die Haselnusshaine pflegten, die Nüsse ernteten und auf die Märkte fuhren oder die Haselnüsse im Laden verkauften, achteten Gaja sehr. Gaja war ein gutes, gerechtes und freundliches Klima im Familienbetrieb wichtig, so wie das bereits den Eltern und Großeltern wichtig war.

Als es an der großen Eingangstür des Casas klingelte, seufzte Gaja. Die Kinder und Enkel ihres Bruders würden sich bei ihren Geschenken und Gratulationen wieder gegenseitig übertrumpfen. Jeder in der Hoffnung, später den größtmöglichen Erbteil zu bekommen. Gaja ahnte, dass sie den Betrieb verkaufen und sich um das Casa streiten würden.

Iva hatte die Tafel für den Geburtstag im Garten gedeckt, im Schatten einer großen Platane. Gaja hörte, wie Iva die Gäste ins Casa ließ. Gleich würde auch das Abendessen geliefert werden, so war es geplant. Gaja atmete tief ein und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Ihr noch schwarzes Haar war nur wenig von silbernen Strähnen durchzogen und der Glanz in ihren dunklen Augen verlieh ihr eine Leichtigkeit, um die sie die beiden Schwiegertöchter ihres Bruders ganz sicher beneideten. Die beiden Frauen ließen sich aber schon längere Zeit gehen, achteten nicht mehr auf sich, eher darauf, was andere Menschen in ihrem Umfeld taten.

Die alte Dame schritt langsam die dunkle Holztreppe hinab zu ihren Gästen, nahm deren Gratulationen entgegen und vergaß auch nicht zu lächeln, als sie die zahlreichen Blumensträuße entgegennahm. Draußen ging sie zügig zur Stirnseite der Tafel und setzte sich. Sofort sprang eine ihrer Nichten auf und legte Gaja ein Kissen in den Rücken. Keiner der Gäste achtete auf die wunderschön gedeckte Tafel. Gaja selbst hatte in die Vasen Rosen aus ihrem Garten gestellt. Auf den weißen Tafeltüchern standen zusätzlich bunte Windlichter, die am späten Abend funkeln würden.

Gaja hatte sich grad eine Zigarette angezündet, als ihr Handy wieder einmal klingelte. Sie freute sich über die lieben Glückwünsche ihrer vielen Freunde. Nachdem die Wasserkaraffen und diverse Weinflaschen auf dem Tisch standen, wurden die Gläser gefüllt und auf Gajas Wohl angestoßen. "Salute" erklang es von allen Gästen. Erneut klingelte Gajas Telefon. Diesmal aber drückte sie das Gespräch weg, sah sie doch, wie so mancher Gast am Tisch nur mit den Augen rollte. Gaja dachte, wie alt muss ich noch werden - liebe Freunde von nah und fern wollen mir von Herzen gratulieren und ich bin hier, hier mit einer Familie, die nicht meine eigene ist, die nur der Pflicht wegen an meinem Geburtstag bei mir sitzt.

Als es kurz darauf noch einmal an der Haustür klingelte, zeigte Iva den Kellnern den Weg in den Garten. Sie würden bleiben und sich um das Essen und den Service kümmern. Gaja zündete sich eine weitere Zigarette an. Das Rauchen war ihr einziges Laster. Eine neugierige junge Frau mit großen Zähnen, die mit einem Enkel ihres Bruders gekommen war und die Gaja nicht kannte, rutschte zu ihr und fragte sie auf eine äußerst indiskrete Weise, ob Gajas Mann schon tot und warum für Gajas Kinder nicht eingedeckt war. Gaja fühlte Ivas besorgten Blick, nahm ihr Weinglas und nichts erschien ihr in diesem Moment passender, als das Klingeln ihres Handys und die lieben Worte, die zu ihr gesprochen wurden.

Das Essen war köstlich, verschiedene Antipasti und Brot standen auf der Tafel. Es gab mehrere Gänge mit Pasta, Risotto, Fisch und Gemüse. Als Abschluss wurden kleine Haselnusstörtchen mit Kaffee serviert. Die Gespräche drehten sich um Gajas wundervolles Casa und den Betrieb. Die ältere Dame musste innerlich schmunzeln, weil ganz offensichtlich niemand danach fragte, was wird, wenn Gaja eines Tages nicht mehr den Betrieb leiten würde.

Zu später Stunde verliessen Gajas Gäste das Fest. Die Kerzen auf dem Tisch funkelten mit den kleinen Perlen an ihrem Kleid um die Wette. Iva goss Gaja noch ein Glas BARBERA D'ASTI ein und nickte ihr freundlich zu, als sich Gaja eine letzte Zigarette anzündete, ihr Weinglas nahm und sich etwas weiter hinten im Garten auf eine Sandsteinbank setzte. Hier saß Gaja sehr gern, hier im aromatischen Duft der Rosmarinhecke und einem leuchtend bunten Windlicht neben sich. Die alte Frau dachte zurück an die Jahre ihrer gelebten Zeit und spürte in diesem Moment, dass es Zeit war ihr Testament zu machen. Aber wie? Wen sollte sie bedenken?  Sie schaute zu Iva, die auf einem Tablett mehrere Weingläser ins Casa trug - und Gaja lächelte wissend.

Ende

 


PS: Ich danke der unbekannten italienischen Familie in der Trattoria am Nebentisch, die mir mit ihrem Verhalten während ihrer Geburtstagsfeier unbewusst viel Inhalt für meine Geschichte serviert hat 😉.




Kommentare

  1. Beim Lesen deiner Geschichte spüre ich den Duft der Pinien, die warme Sonne und das Singen der Zikaden... Ich sehe mich bei einem Glas Rotwein, während mein Blick und meine Gedanken in die Weite der italienischen Landschaft spazieren.
    Wunderbar geschrieben, liebe Henriette !☺️

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