Der Tod war allgegenwärtig





Das rot-weiße Absperrband der Polizei flatterte im Wind, es sollte Unbefugte und Gaffer daran hindern, die Brücke zu betreten. Und doch würde die Kommissarin morgen früh erste Fotos in der Zeitung und in den sozialen Netzwerken sehen. Sie blickte sich um. Am Ufer des Flusses standen alte Bäume, deren kahle Äste durch die Scheinwerfer bizarre Schatten auf den Rasen und den betonierten Radweg warfen. Der Fluss unter ihr wirkte in der Nacht noch bedrohlicher, kleine Schaumkrönchen rauschten auf den Wellen unter der Brücke hindurch. Wind war aufgekommen. Die blonde Frau lächelte müde, ausgerechnet jetzt dachte sie daran, dass sie sich schon ihr ganzes Leben lang darüber wunderte, dass dieser Fluss bei Tag träge dahinzufließen schien und in der Nacht tiefer, schneller und unberechenbar wirkte.

Sie versuchte sich eine Zigarette anzuzünden, doch das Feuerzeug ging bei diesem Wind immer wieder aus. Während sie die Zigarette zurück in die Schachtel steckte, schaute sie erneut in den Fluss, so, als könne sie das Auto in der Tiefe sehen, das vor weniger als einer Stunde von der Brücke in das schwarze Nass gerast war. 

Dem Mann, der mit seinem Taxi im Fluss versunken war, kam zu Gute, dass er zeitlebens ein guter Schwimmer war. Noch während die Polizei und die Suchmannschaften vor Ort nach seinem Auto suchten, stieg er vor Kälte zitternd und erschöpft, knapp einen Kilometer flussabwärts aus dem Wasser.

Ron brauchte dringend trockene Sachen. Nach Hause konnte er nicht, dort würde die Polizei zuerst nach ihm suchen, wenn sie sein Taxi ohne ihn darin finden würden. Er wusste, dass es ganz in der Nähe eine Pension gab. Im Schutz der Dunkelheit lief er die Einbahnstraße bis zum Ziel. Vorsichtig spähte er durch das Fenster neben der Tür. Im gedämpften Licht der kleinen Tischlampe war niemand an der Rezeption zu sehen. Ron griff am Schlüsselbrett nach einem Schlüssel der freien Zimmer und keine zehn Minuten später stand er unter der heißen Dusche. Während das Wasser über seinen ausgekühlten Körper lief, fragte er sich, warum ausgerechnet er diese Situation erleben musste.

Keine zwölf Stunden war es her, dass er an einem beliebten Currywurststand genüsslich in eine solche gebissen und schmunzelnd Jochen, den Inhaber, gefragt hatte, ob dieser verliebt sei, weil die Sauce sehr scharf gewürzt war. Genau in dieser Zeit war sein Taxi unbeaufsichtigt. Niemand hatte etwas beobachtet. Erst Stunden später hatte Ron die Leiche im Kofferraum entdeckt. Schnell hatte er die Kofferraumklappe wieder geschlossen, das Gepäck des Fahrgastes, eine ältere Dame, stattdessen auf die Rückbank gestellt und sie nervös zum Bahnhof gefahren. Wie sollte er der Polizei glaubhaft erklären, dass er wieder einen Toten im Taxi hatte? Die Geschehnisse vom letzten Jahr waren noch unvergessen, als ein Fahrgast in sein Taxi gestiegen und vergiftet auf der Rückbank zusammengebrochen war. Und, dass Ron dessen Geliebte später in Wien gerettet hatte und dabei selbst schwer verletzt wurde.

All diese Geschehnisse fielen ihm nun wieder ein, während er mit einem Fön seine Sachen trocknete. Ron hatte das Gesicht der toten Frau im Kofferraum zwar nur kurz gesehen und doch war sie ihm bekannt vorgekommen. Er fragte sich, an wen ihn diese Frau erinnerte.

Am zeitigen Morgen schlich Ron aus der Pension, zog sich seine Wollmütze tief ins Gesicht und fuhr mit der S-Bahn ins Zentrum der Stadt. An einem Zeitungsstand hielt er inne. Auf der Titelseite war sein Taxi zu sehen und dazu die Überschrift, dass eine bekannte Journalistin ermordet worden sei. Jetzt wusste er es! Ron war die Tote gleich bekannt vorgekommen. So manches Mal hatte er Eva Rüders im Fernsehen gesehen - ob in Interviews oder in ihren Reportagen. Stets waren ihre Themen brisanten Inhaltes, keine billigen Klatschgeschichten. 

Er erinnerte sich an den Krankenhausskandal, der durch sie erst vor wenigen Tagen aufgedeckt wurde. Dabei hatte sie sich als Patientin ausgegeben und gefälschte Abrechnungen mit vorgetäuschten Operationen und nicht zugelassenen Implantaten aufgedeckt. Wem war sie bei ihren Recherchen auf die Füße getreten? Hing ihr Tod überhaupt mit dem Krankenhausskandal zusammen? Ron legte das Kleingeld auf den Verkaufstresen, griff nach der Zeitung und setzte sich in ein Bistro.

Einen Espresso später rief er bei der Zeitung an, für die die Journalistin tätig war. Ihm wurde gesagt, dass Frau Rüders aktuell an keinem Fall arbeitete, im Gegenteil, sie hatte ein paar Tage frei und wollte in den Urlaub fahren, um sich von den stressigen Recherchen der letzten Wochen zu erholen. Da die Verwaltungschefin und der Chefarzt des Krankenhauses, die für diesen Skandal die Verantwortung trugen, in Haft waren, sah Ron kein weiteres Motiv für diesen Mord.

Er hatte in Erfahrung gebracht, wo  Frau Rüders wohnte. Ron nahm sich einen Leihwagen und fuhr kurzerhand zu ihrem Haus. In der farblosen Einfamilienhaussiedlung war es sehr ruhig. In den Gärten wuchsen kaum Blumen und Sträucher, dafür gab es viel grauen Kies in den Vorgärten. Ron wartete unweit des Grundstücks. Kurze Zeit später kam ein hektisch wirkender Mann mit zwei Koffern aus dem Haus, wuchtete diese in ein Auto, das auf dem Gehweg parkte und brauste eilig davon. Ron schlich über die Einfahrt zur Garage. Er bemerkte die noch offen stehende Eingangstür und trat ein. Der Anblick des Hauses ließ Ron zögern. Hier hatte jemand etwas gesucht, alle Zimmer waren durchwühlt. Auf einem Foto in der Diele erkannte Ron Frau Rüders. Den Mann, der sie im Arm hielt, hatte Ron vor wenigen Minuten in das Auto steigen sehen.

Plötzlich spürte Ron, dass er nicht mehr alleine war. Er hatte die leisen Schritte hinter sich nicht gehört, wohl aber jetzt die Tür, die ins Schloss fiel. Ron drehte sich um und blickte in das Gesicht des Mannes auf dem Foto an der Wand. Dieser war noch einmal zurückgekehrt, griff nach einem Messer und stach zu.

Als Ron das erste Mal zu sich kam, wurde er gerade in einen Rettungswagen geschoben. Die Sanitäter sprachen leise miteinander, ihre schnellen und sicheren Handgriffe zeugten von Professionalität. Mit Blaulicht und Sirene starteten sie wenige Minuten später zum Krankenhaus.

Diesmal gelang es der Kommissarin, sich eine Zigarette anzuzünden. Sie holte tief Luft und blies den Rauch aus ihrer Nase. Die letzten Stunden hatten es in sich gehabt. Der Mörder der Journalistin war gefasst und Ron, der sich fälschlicherweise verdächtig gefühlt hatte, war unterwegs ins Krankenhaus. Die Kommissarin hatte von der Liaison zwischen Dr. Friedemann, einem Arzt, und Frau Rüders erfahren, den die Journalistin bei ihren Recherchen im Krankenhaus kennengelernt hatte, und auch, dass der Lebensgefährte der Journalistin wegen Körperverletzung vorbestraft war. Seine Flucht und das er Ron niedergestochen hatte, bestätigte ihren Verdacht, dass er Frau Rüders im Streit erschlagen und in einem Taxi versteckt hatte.

Zum zweiten Mal erwachte Ron. Vorsichtig bewegte er sich in seinem Krankenhausbett, seine Brust schmerzte. An seinem Bett saßen eine ihm unbekannte Frau und ein Arzt. Die Frau stellte sich als Kommissarin Rosenberg vor. Ron erfuhr von ihr, wie sie durch ihn auf den Mörder von Frau Rüders gestoßen war. Ein anonymer Anruf, dass in einem Berliner Taxi eine Leiche läge, dann die Polizeikontrolle, der Ron zu entkommen versuchte und ein aufmerksamer Nachbar von Frau Rüders hatten die Kommissarin noch rechtzeitig zu Ron geführt.

Der Arzt schaute Ron traurig an und sagte leise zu ihm, dass er Glück gehabt und es ihn hätte schlimmer erwischen können. Dann ging er aus dem Zimmer und schloss hinter sich leise die Tür. Die Kommissarin schaute Ron lange an. Dieser Arzt, so bestätigte sie Rons Vermutung, war der Geliebte von Frau Rüders.

Die Kommissarin stand wenig später mit Dr. Friedemann noch einen Moment am Pflegestützpunkt der Station. Sie versprach in den nächsten Tagen noch einmal vorbeizukommen und verabschiedete sich von ihm. Für Dr. Friedenmann fühlten sich die letzten Wochen wie ein Krimi an - erst die Festnahme seines Vorgesetzten und der Verwaltungschefin und nun das jähe, gewaltsame Ende seiner Liebe zu Eva Rüders. Für ihn war und blieb der Tod allgegenwärtig.

Ron zog sich die Decke über die Schultern und sah aus dem Fenster. Es regnete in Strömen. Für ihn stand fest, dass er seinen Job als Taxifahrer an den Nagel hängen würde. Vielleicht könnte er sich als Fahrer für einen Krankentransport bewerben. Patienten sind in der Regel mit sich selbst beschäftigt, dachte er noch und schlief erneut ein.






Ende





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