Helenes Toscanazauber


"Wenn du einmal im Stau stehen solltest und Hilfe brauchst, kannst du jeder Zeit einen der vielen LKW Fahrer bitten. Die helfen immer, die haben sogar einen kleinen Kocher dabei, falls man etwas erwärmen muss - Babynahrung, Kaffee, Tee oder so......", das waren die Worte einer ehemaligen Arbeitskollegin und an diese Worte musste die junge Frau jetzt denken.

Sie stand im Regen auf einem Parkplatz und sah auf das Schild gegenüber an dem dicken Stamm eines großen Baumes, welches den Hinweis "Achtung! Eichenprozessionsspinner!" trug. Unter dem Blätterdach standen zwei ältere Frauen, schutzsuchend vor dem Regen, die ebenfalls auf das WC wollten. Doch das davor stehende Auto eines Reinigungsunternehmens verhieß nichts Gutes, das kleine Häuschen wurde geputzt und war vorübergehend nicht zu betreten.

Helene blickte auf die beiden Frauen unter der Eiche und hörte die Musik aus dem Autoradio des Golfes mit der Werbung für Reinigungssartikel. Sie fragte sich, wie sie bloß in diese Situation gekommen war. Ihre Haare waren tropfnass und sie spürte, wie die Nässe durch die Kleidung in jede Pore ihrer Haut drang. Noch vor wenigen Minuten hatte die Sonne geschienen, doch hier in den Bergen, änderte sich das Wetter rasch.



Auf der Rückbank des freundlichen Ehepaares, in deren Auto sie zuvor gestiegen war, saß ein plärrendes Kleinkind, das sich nicht beruhigen ließ und Helene hatte nach knapp 60 Kilometern Fahrt darum gebeten, hier an diesem Rastplatz aussteigen zu dürfen.

Und so stand sie nun, nass bis auf die Knochen, und blickte zögernd zu den Truckern. Als es vor ihr hupte, sah Helene durch das offene Fahrerfenster das freundliche Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes um die Fünfzig, nahm allen Mut zusammen und kletterte zu ihm in die Fahrerkabine des LKW, dessen Werbung Milchprodukte von glücklichen Kühen zeigte. Während sie langsam vom Parkplatz rollten, sah Helene noch, wie sich eine der beiden Frauen unter der Eiche am Hals kratzte ....

Nach einer Stunde waren Helenes lange rote Haare und auch ihr Sommerkleid trocken, nur ihre braune Lederhandtasche war von außen noch etwas feucht. Matheo, der freundliche LKW Fahrer, der aussah wie ein Fernsehkommissar, freute sich die Tour nicht allein fahren zu müssen. Er erzählte von seiner Fahrt, seiner Frau und den kleinen Zwillingsbuben daheim und Helene entspannte sich. Als ihr Magen knurrte, öffnete Matheo die Tür des winzigen Kühlschranks und holte eines der vielen Schnittenpakete heraus, die ihm seine Frau gestern Abend geschmiert hatte. Helene biss hungrig in das weiche Brot und schmeckte den würzigen Käse auf ihrer Zunge.

Während sie sich das belegte Brot schmecken ließ, spielte im Radio leise "Una piccolissima serenata", und sie erzählte Matheo ausführlich und lachend von ihrem Versuch, am Vormittag, als sie selbst Auto gefahren war, an der ersten Raststätte eine heiße Schokolade und einen Donut zu bekommen. Durch Helenes Mundschutz hatte die Verkäuferin ständig "weiße" statt "heiße" Schokolade und "Hot Dog" statt  "Candy Donut" verstanden. Und als Helene endlich ihr gewünschtes Essen im Arm hielt, hatte sie zusätzlich Bauchweh vom Lachen und die Verkäuferin war froh, als Helene ihr endlich zufrieden den Rücken zudrehte und ging. Matheo lachte laut und schaute ungläubig abwechselnd zu Helene und auf die Autos vor ihm.

Aber dann fügte Helene ernst hinzu, wie sie aus dem Rasthof gekommen war und ihren himmelblauen Käfer nicht finden konnte, bis ihr klar wurde, dass er ihr gestohlen war. Ihr war lediglich ihre Handtasche geblieben. Und mit einzig dieser befand sie sich nun auf dem Weg nach Italien an den Gardasee. Dort wollte sie sich mit ihrer Schwester treffen, die geplant hatte, sich in der Toscana ein kleines Haus zu kaufen. Morgen würden sie gemeinsam in die Toscana fahren.

Matheo quälte den LKW die Steigung über den Brenner hinauf, fuhr an den Obstplantagen bei Bozen vorbei und später, als sie aus den Bergen der Dolomiten kamen, staunte Helene über den Anblick des Gardasees. Wunderschön und türkisblau lag er vor ihnen, wie ein kleines Meer. Matheo, der verschiedene Hotels am Gardasee beliefern würde, setzte Helene im Zentrum von Malcesine ab, von wo sie zu Fuß zu ihrem Hotel lief.



Der Trubel in den Gassen, die vielen Touristen mit ihren fremdländischen Sprachen, die Gerüche und die typischen Geräusche versetzten Helene in  Urlaubsstimmung. Sie setzte sich mit einem Eis an das Ufer des Gardasees, hielt ihre Füße in das kühle Wasser und genoss die Stimmung.


Das Hotel war nur wenige Meter vom See entfernt und Helene konnte die leichten Wellen von ihrem Zimmer aus bewundern, das direkt neben dem ihrer Schwester Valerie lag. Später am Tag bummelten die Schwestern durch das Städtchen, kauften für Helene eine neue Reisetasche, füllten diese mit allem, was eine Frau so braucht und stellten sich vor, was wohl aus Helenes Auto und ihren Sachen geworden war. Bei einem leichten Abendessen, in einer Taverne direkt am See, erzählte Valerie von dem kleinen Casa im Herzen der Toscana. Sie hatte es im Internet gesehen und es hatte ihr gleich gefallen, zu dem Haus gehörte ein Garten, der allerdings nicht gepflegt war. In zwei Tagen wäre der Besichtigungstermin vor Ort und Valerie war froh, dass Helene sie begleiten würde.

Auf dem Weg in die Toscana musste Helene mehrfach telefonieren, die Versicherung wollte verschiedene Fakten und Daten klären; und Helene wurde immer ungeduldiger, je näher sie dem kleinen Ort Pienza kamen. Hinter der Autostrada waren erste Zypressen und Pinien zu sehen. Valerie zahlte die Maut und hielt wenige Kilometer hinter der Abfahrt den Mietwagen an. Die Schwestern stiegen aus und blickten sich staunend um. Es war später Nachmittag und das weiche Licht tauchte die Weinberge in ein sanftes Orange. Rechts säumten Zypressen eine schmale Allee zu einem Weingut, es war unglaublich schön.


In Pienza hatte Valerie ein Hotel gebucht. Die Schwestern checkten ein und schlenderten später durch das kleine Städtchen. Sie ließen sich Pasta und Vino schmecken, und staunten, als westlich der Stadtmauer die Sonne unterging. Helene spürte wie ihre Seele sich auf diesen Ort einließ und konnte nun verstehen, warum Valerie hier künftig leben wollte.

Am nächsten Tag trafen sich Helene und Valerie mit den Maklern im Immobilienbüro. Die Makler, ein ungleiches Paar, begrüßten die Schwestern und stellten sich als Herr und Frau Riemenschnetter vor. Frau Riemenschnetter hatte ihr schulterlanges graues Haar streng zu einem Zopf zusammengebunden, trug eine modische Brille und war sehr schlank. In ihrem schwarzen Overal war sie schwer zu schätzen, vielleicht Mitte Fünfzig. Herr Riemenschnetter wirkte ein paar Jahre jünger und hatte erste graue Haare. Seine blauen Augen blickten einen Moment zu lange in Helenes Augen. Helene senkte überrascht den Blick und fragte sich für einen Moment, ob sein gepflegter Vollbart sich weich anfühlen würde. Als sie sich bei diesem Gedanken ertappte, errötete sie verlegen. Frau Riemenschnetter führte das Gespräch und schlug vor, als erstes zu dem Casa zu fahren, welches nur 10 Minuten entfernt war.



Helene hielt die Luft an, als sie aus dem Auto stiegen. Das kleine Casa stand mitten in einem Garten. Die Fassade und das Dach waren gut erhalten. Frau Riemenschnetter ging energischen Schrittes voran, öffnete die Haustür und einen Moment später die braunen Fensterläden. Kleine Staubkörnchen tanzten in der Luft der leeren Zimmer. Das Bad hatte an den Wänden kleine Mosaikfliesen, die Helene von der Farbe her an den Gardasee erinnerten. Die Küchenzeile war aus schlichtem Holz vor einer Wand mit grün/ weißen Fliesenornamenten. Während Helene noch dachte, dass lediglich die Wände gestrichen werden und eine Grundreinigung erfolgen müsste, sah sie den Blick ihrer Schwester und wusste,  dass diese sich bereits entschieden hatte.



Helene öffnete eine Flügeltür und ging die Stufe hinab in den Garten. Weißer Jasmin, weißer Oleander, ein Feigenbaum und je zwei Orangen- und Zitronenbäume fielen ihr zuerst auf. Zur Südseite wuchs eine Hecke aus Rosmarin. Sein aromatischer Duft hing schwer in der warmen Luft. Ja, hier würde Valerie sich wohlfühlen, dachte sie und lauschte den Zikaden im Garten und den Stimmen der Frauen im Haus.



In diesem Moment spürte Helene, dass sie nicht alleine war. "Wie lange werden Sie in Pienza bleiben?", fragte Herr Riemenschnetter und fügte leise hinzu "Ich würde Sie gern bei einem Abendessen kennenlernen.". Als er Helenes Blick ins Haus folgte, schmunzelte er. "Ich denke, Ihre Schwester hat sich bereits entschieden und meine Schwester wird noch heute den Vertrag aufsetzen". Helene lächelte. Ja, hier ist ein wunderschöner Ort.




Ende


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