Ein Halbes vom Mond



 Prolog




In einem Wiener Spital strahlt kalt und hell das weiße Neonlicht über dem Flur der Intensivstation. Leise quietschen die Gummisohlen des Personals auf dem frisch gewischten Fußboden. Und genauso leise sprechen auch die Ärzte und Schwestern miteinander. Alles ist steril, selbst die Luft zum Atmen schmeckt steril.

Die junge Frau schaut traurig in sein geschundenes Gesicht. Ihre Blicke gleiten über seinen bandagierten Kopf und weiter zu den Monitoren, die jedes Vitalzeichen seines Körpers aufzeichnen. Leise tönt das monotone Piepsen seiner Herzschläge. Es sind die einzigen Geräusche in diesem Zimmer. Der Mond scheint hell durch das Fenster - ein halber Mond, wie durchgeschnitten, auf den Mann, der nur noch zur Hälfte Leben in sich zu haben scheint. Zwei Mal ein Halbes, denkt sie, und doch kein Ganzes.

Sie steht am Fußende des Intensivbettes, in dem Ron um sein Leben kämpft. Ron, der Taxifahrer, der sie in seinem Taxi noch vor wenigen Tagen zum Flughafen gefahren hatte. An diesem Morgen war ihr Herz noch voller Liebe. Doch diese endete jäh, als sie am Flughafen auf die Liebe ihres Lebens, auf Jörge, umsonst wartete. Jörge, der heimtückisch vergiftet wurde und kurze Zeit später seinen Tod ausgerechnet in Rons Taxi fand. Ermordet von dem Mann, der von Jörges Frau und ihrer Familie geschickt worden war - und an dem sich die junge Frau an Rons Bett gerächt hatte.

Julia weint leise. Sie beobachtet die Schwester, die sich um Ron kümmert und mit ernstem aber erfahrenem Blick die Monitore im Auge hat. Schwester Claudia ist schlank und trägt ihr schulterlanges blondes Haar zu zwei Zöpfen gebunden, was ihr freundliches und offenes Wesen unterstreicht. "Geben Sie die Hoffnung nicht auf. Er wird es schaffen, ganz bestimmt.", flüstert sie leise und berührte dabei Julias Schulter. Fast lautlos klingelt Julias Handy. Es ist Rons Mutter, die auf dem „Vienna International Airport" gelandet und nun auf dem Weg ins Spital ist. Julia beendet das Gespräch und legt den Kopf in den Nacken. Wie soll sie all das Geschehene in Worte fassen und Rons Mutter erklären? Sie hält eine Tasse Kaffee in den Händen, die ihr Schwester Claudia zuvor aus dem Schwesternzimmer mitgebracht hat und lässt die letzten Tage Revue passieren.

*

Nachdem Ron sie zum zweiten Mal zum Flughafen gebracht hatte, war er nach Hause gefahren und Julia allein in den Flieger gestiegen. Wien, die Stadt in der sie mit Jörge ein neues Leben beginnen wollte, wirkte ohne ihn fremd und einsam. Sie hatten sich bei ihrem Plan dieses Hotel ausgesucht, in dem sie vorerst wohnen wollten, bis sie eine passende Wohnung finden würden. 
Und in diesem Hotelzimmer saß Julia nun allein. Sie wusste nicht, ob sie nach Berlin zurückkehren konnte. Die Polizei dort suchte inzwischen fieberhaft nach dem Mörder des Mafiosos, den Julia in Notwehr erschlagen und ihr orange-rotes Tuch wieder an sich genommen  hatte. Erschöpft schlief sie auf dem großen Bett ein.

In der Nacht war sie vor Hunger erwacht, hatte erst geduscht, später eine Tüte gesalzene Nüsse gegessen und ein großes Glas Wasser getrunken. Julias Spiegelbild blickte sie ernst und mit tiefen Augenringen an. Kurze Zeit später klingelte ihr Zimmertelefon. Der freundliche Herr von der Rezeption teilte ihr mit seiner warmen Stimme und dem weichen Wiener Dialekt, den sie so mochte, mit, dass sich zwei Männer soeben nach ihr erkundigt, er aber keine Auskunft gegeben hatte. Julia bekam Angst, man hatte sie also gefunden. Waren die Männer von der Polizei oder waren es die Schergen von Jörges Witwe und ihrer Familie? Wieviel Zeit blieb ihr? Julia scrollte sich aufgeregt durch die Kontaktliste ihres Handys. Sie hatte keinen großen Freundeskreis, ihre Schwester war auf einer Reha an der Ostsee und der Mann, den sie über alles liebte, würde in einigen Tagen in einem Familiengrab in Palermo, von den Auftraggebern seines Mörders feierlich begraben werden. Ob seine Frau, die ihn nicht liebte, unter ihrem schwarzen Schleier scheinheilig um ihn weinen würde?

Unter dem Buchstaben "R" fand sie in ihrer Kontaktliste RON. Er hatte ihr für den Notfall seine Nummer gegeben. Und dies war definitiv ein Notfall! Sich dessen nicht bewusst, dass es mitten in der Nacht war, rief sie ihn an. Ein müder Ron meldete sich und hörte wortlos ihrer aufgeregten Stimme zu. Er sagte nur zwei Worte: "Ich komme" - und versprach sie in zwanzig Minuten zurückzurufen. In dieser Zeit klärte er, dass er in den nächsten Tagen nicht zur Arbeit kommen könne und buchte im Internet den nächsten Flug nach Wien. Am zeitigen Vormittag würde er sich mit Julia im Hotel treffen, teilte er ihr kurze Zeit später mit.

Als die Maschine nach Wien vom Flughafen Berlin Tegel abhob, ahnte Ron noch nicht, wie sich die nächsten Tage gestalten würden - alles war möglich. Was er aber geahnt hatte war, dass ein Mann einige Reihen hinter ihm sitzen würde. Nur wusste dieser nicht, dass Ron nicht an Bord war. Diese Fährte hatte Ron, seinem Bauchgefühl folgend, spontan gelegt. Kurz nach dem Telefonat mit Julia legte er seine Tasche in den Kofferraum seines Taxis und fuhr los. Er würde laut Navi acht Stunden bis Wien unterwegs sein.

Julia machte voller Angst kein Auge zu. Als am Morgen die Dunkelheit gewichen war, konnte sie etwas klarer denken und beschloss, zunächst in ein anderes Hotel zu ziehen. Leise klopfte Ron später an ihre Zimmertür. Auch er sah müde aus, nahm sie entschlossen in die Arme, und kurz darauf schlichen sie durch einen Hinterausgang aus dem Hotel.

In einem anderen Stadtteil fanden sie eine kleine Pension und setzten sich weit vom Fenster entfernt an einen kleinen Tisch, bestellten sich Frühstück und überlegten wie es weitergehen könnte. Niemand der Angestellten wollte ihre Papiere sehen, es reichte, dass sie sich als Herr und Frau Jakoby eingetragen und mit einer viel zu hohen Summe ihr Zimmer für eine Woche im voraus bezahlt hatten. Ron staunte, als er in Julias Tasche mehrere Hunderttausend Euro sah. Fragend schaute er sie an. Ihr angstvoller Blick wich und sie berichtete ihm voller Trauer und Entsetzen, wie sie in Berlin in dem Hotel, zu dem Jörge fahren wollte um das Geld für ihre Flucht vor der Familie zu holen, auf seinen Mörder gestoßen war. Julia wollte irgendetwas Persönliches von Jörge mitnehmen, als Erinnerung an ihn. Doch als sie weinend in seinem Zimmer stand, war sie plötzlich nicht mehr allein.

Der Mann, der sie aus kalten Augen anstarrte und auf widerliche Weise über Jörge und darüber sprach, wie er ihm heimlich das Gift verabreicht hatte, wollte von ihr wissen, wo das Geld versteckt sei. Aus seiner Manteltasche hing Julias orange-rotes Tuch, das Jörge in seinen letzten Minuten bei sich getragen hatte. Sie wollte fliehen aber er versperrte ihr den Weg und würgte sie. Julia schlug mit der Vase, nach der sie noch greifen konnte, mehrmals zu. In Panik nahm sie eine Tasche an sich, die ganz offensichtlich neben dem Tisch stand und rannte aus dem Hotel. Am nächsten Tag war sie erneut in Rons Taxi gestiegen und mit ihm in ein Cafè gefahren, von wo aus er sie später zum Flughafen gebracht hatte.

"Das Offensichtliche wird wohl oft nicht wahrgenommen.", sagte Julia leise, als sie an die Tasche mit dem Geld in Jörges Hotelzimmer dachte. Gemeinsam überlegten die Beiden am Frühstückstisch welche Optionen Julia hatte. Weg aus Wien, in eine andere Stadt, in ein anderes Land? Zurück nach Berlin, zur Polizei und in das Zeugenschutzprogramm? Sie waren sich dessen bewusst, dass solche Mafiakreise unantastbar waren. 

Rons Handy piepste leise und machte auf eine eingegangene Nachricht aufmerksam. Er blickte sich um. Wurden sie beobachtet? Woher wussten die Männer, wo sich Ron und Julia versteckten? Worte wie Handyortung und versteckte Mikrofone fielen Ron ein, und ebenso alle Krimis, die er je gesehen und gelesen hatte. Hastig blickte er sich um. Parkte vor der Tür ein Auto mit einem ausländischen Kennzeichen? Oder stand ein Leihwagen dort? Schaute der Mann am Nebentisch nicht schon auffällig lange zu ihnen? Oder war es gar der Kellner, der etwas in sein Handy tippte?

"TREFFPUNKT 23 UHR AM PRATER. BRING DAS GELD UND DIE FRAU MIT. SONST FINDEN WIR DEINE FAMILIE!", waren die Worte der Nachricht auf seinem Handy. In diesem Moment wusste Ron, dass auch er auf der Liste der Mafia stand. Er löschte alle Kontakte, Nachrichten und Fotos in beiden Handys und, um sicher zu gehen, setzte er sie auf Werkseinstellung zurück. Langsam ging Ron an einer Frau vorbei, die gerade dabei war ihre Zimmerrechnung zu bezahlen und ließ die Handys unauffällig in ihre Tasche fallen. Als sie die Pension verließ und hastig nach einem Taxi rief, wurde Ron etwas ruhiger.

Während Julia appetitlos auf ihr Lachsbrötchen starrte und Ron mit dem Löffel lustlos sein Frühstücksei aufklopfte, trat der Kellner an ihren Tisch. Er überreichte Ron einen Umschlag, dessen geschriebene Nachricht die gleichen Worte enthielt, wie die Nachricht zuvor auf dem Handy. Ungläubig starrten die Beiden auf den Zettel. Ron ging zur Rezeption und erkundigte sich, wer diese Nachricht überbracht hatte. "Ich bedaure, Herr Jakoby, diese Herren habe ich noch nie gesehen", antwortete die junge Frau gelangweilt, kaute mit offenem Mund auf ihrem Kaugummi herum, zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf das Ohrenstäbchen, mit dem sie die Zwischenräume der Tastatur reinigte.

"Vielleicht wollen die nur das Geld und lassen mich wieder gehen?", flüsterte Julia leise. Aber instinktiv wusste sie bereits die Antwort. Ron überlegte. Es gab nur eine Hilfe, die sie bekommen könnten. Er würde sich ein einfaches Prepaid Handy organisieren und Kommissar Brandt in Berlin anrufen, bei dem er bereits vor ein paar Tagen war, nachdem Jörge tot in seinem Taxi saß, bei ihm eingebrochen und der Koffer mit dem orange-roten Tuch gestohlen worden war.

Kommissar Brandt, den alle wegen seiner geringen Größe nur Flämmchen nannten, kratzte sich am Kopf. Länderübergreifende Ermittlung, der sich gerade aufklärende Mafia Mord in Berlin, seiner Stadt, dazu ein gemeldeter Toter aus Kopenhagen in einem Berliner Taxi, der spurlos verschwand und nun zwei Berliner in Not. Er kam sich ein bisschen vor wie Kurt Wallander, dem Romanheld von Henning Mankell, der ihm beruflich wie privat ähnelte. Nur vor dessen, im letzten Teil festgestellter Demenz, davor ängstigte sich Kommissar Brandt. 

Er erinnerte sich an den freundlichen Taxifahrer, an Ron, der vor wenigen Tagen bei ihm im Büro saß. Brandt versicherte Ron, er würde sich mit den Kollegen in Wien in Verbindung setzen und Ron dann sofort zurückrufen.

Julia und Ron waren mit seinem Taxi in der Innenstadt unterwegs, in diesem fühlten sie sich sicher. An der roten Ampel mussten sie verkehrsbedingt halten und Ron schloss für einen Augenblick die Augen. Wieder durchzog sein Taxi, wie Tage zuvor, der Duft von Julias Parfüm. Ihm war, als wäre die Zeit stehengeblieben und noch immer jener Morgen, als sie zum ersten Mal in sein Taxi gestiegen war. Er öffnete wieder die Augen und blickte Julia von der Seite an, die in sich gekehrt aus dem Seitenfenster schaute. Eine interessante Frau, dachte Ron. Er konnte Jörge gut verstehen, der sich in Julia verliebt hatte.

Als es hinter dem Taxi hupte, zuckten die Beiden zusammen. Die Ampel war auf Grün umgesprungen - und die Dame am Steuer hinter ihnen sehr ungeduldig. Ron fuhr das Taxi in ein Parkhaus. Gerade als er den Motor ausstellen wollte, klingelte sein Handy. Es war Brandt aus Berlin, der ihm mitteilte, was er am Telefon erreicht hatte. Ron und Julia hörten seinen Anweisungen zu und in dem Moment dachte Julia zum ersten Mal seit Stunden, dass sich alles aufklären würde. Die Wiener Polizei war in Bereitschaft, kannte das Kennzeichen von Rons Taxi und würde am Prater Stellung beziehen.

Doch es kam alles ganz anders als erwartet. Als Kommissar Brandt in Berlin exakt 23 Uhr auf die Armbanduhr blickte, und anschließend zu dem Lichtern des Fernsehturmes am Alexanderplatz, überstürzten sich die Ereignisse in Wien.

Ron, der mit Julia im Taxi am Prater stand und auf die Männer wartete, die von Jörges Familie geschickt worden waren, sah im Rückspiegel ein Auto, das sehr langsam fuhr, und einen Mann, der eine Pistole aus dem Fenster hielt - und startete sein Taxi. Julia krallte sich an ihrem Sitz fest und wurde beim Beschleunigen in die Lehne gedrückt.

Das Taxi raste durch die nächtliche Wiener Innenstadt. Ron, der sich in Wien nicht auskannte, verließ sich auf seine Erfahrungen als Taxifahrer und folgte seinen Instinkten. Im Rückspiegel sah er die Verfolger immer näher kommen und hinter ihnen das Blaulicht der  Streifenwagen. Ron fuhr zu schnell auf einen Tunnel zu, bremste und prallte mit dem Taxi gegen die Tunnelwand. Während Julia aus dem Taxi geschleudert wurde und auf der Straße landete, wurde es um Ron dunkel. Das Letzte, was er im Rückspiegel erblickte, war ein Feuerball. Die Männer im Auto hinter ihnen waren ebenfalls zu schnell gefahren und gegen den Tunneleingang geprallt.

Während die Ärzte im OP des Spitals um Rons Leben kämpften, rief Julia seine Mutter an. Zwar war Julia nicht schwer verletzt, hatte aber eine Gehirnerschütterung und mehrere kleine Wunden, die inzwischen versorgt worden waren. Julias Kleidung war blutig, sie war müde, durstig und spürte, wie ihre Beine gleich nachgeben würden.



Epilog

Ein paar Tage später fühlt Ron, der inzwischen wieder eigenständig atmen kann, eine tiefe Ruhe, jedoch ohne klare Gedanken. Ihm ist, als würde ihn jemand aus weiter Ferne rufen. "Ronny, Ronny", immer wieder hört er seinen Namen, den nur seine Mutter in voller Länge ausspricht. Ron will die Augen öffnen und kann es nicht. Er hört eine zweite Stimme, die ist sanft und die kommt ihm bekannt vor. Diese Stimme erinnert ihn an einen ihm bekannten Duft und an die Farben Rot und Orange. Julia! Und dann hört er die Stimme, die er in der letzten Zeit so oft wahrgenommen hatte - leise, freundlich und mit dem weichen Wiener Dialekt -  Schwester Claudia überlegt er. Ron wird sie fragen, ob sie mit ihm Essen gehen möchte. Aber erst will er noch etwas schlafen ....

Julia, die mit Rons Mutter in der Cafeteria sitzt, blickt auf die Zeitung in ihren Händen, und gemeinsam lesen sie den Artikel, der von dem Unfall in einem Wiener Tunnel berichtet, bei dem es, nach Absprache mit der Polizei, keine Überlebenden gab. Wir sind frei, denkt Julia, zieht ihr orange-rotes Tuch enger um ihre Schultern und lächelt.

Ende





PS: Auch dieser zweite Teil ist eine fiktive Geschichte. Nur Schwester Claudia, die gibt es wirklich und ihr danke ich für das Foto am Anfang der Geschichte. 




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