Edeltraut Trautzsch's Vorliebe für ein Gläschen Eierlikör

Edeltraut Trautzsch war eine rüstige und übergewichtige Rentnerin, die gern und oft lachte. Dabei bebten dann ihr grauer Dutt und ihr ganzer Oberköper, und jeder, der sie lachen sah, wurde von ihrer Fröhlichkeit angesteckt. Bis zu ihrer Hochzeit, vor rund einem halben Jahrhundert, hieß Edeltraut Trautzsch noch Edeltraut Wiesner, was sich für alle Verwandten und Bekannten, Nachbarn und Arbeitskollegen sehr viel einfacher rufen ließ. Vor allem die verkniffene Arzthelferin, die bei ihrem Hausarzt hinter dem Tresen stand, hatte jedes Mal noch schlechtere Laune, wenn sie laut rief: "Edeltraut Trautzsch, bitte". Dann lachte Edeltraut wieder bis ihr Dutt und ihr Oberkörper bebten und alle Patienten im Wartezimmer lachten mit. 

An diesem warmen Frühlingstag, einem Donnerstagnachmittag, hatte Edeltraut ihre drei Freundinnen aus dem Lesezirkel eingeladen. Und wie jedes Mal gab es Kaffee & Kuchen und danach ein Gläschen Eierlikör, den Edeltraut stets für sich, für Herrn Trautzsch und manchmal auch für ihre Freundinnen, in ihrer Küche selbst braute, ab und zu kostete, nickte, noch einmal kostete und dann zufrieden abfüllte.

Nachdem sie die leckere Erdbeertorte neben das gute Porzellan auf den Terrassentisch gestellt und noch einmal einen prüfenden Blick über die Kaffeetafel geworfen hatte, klingelten zeitgleich ihre Freundinnen und der Postbote an der Tür. "Sind Sie Frau, ähm..... Frau Edeltrautzsch?" fragte der neue Postbote und Edeltraut Trautzsch seufzte. Lachend nahm sie ihm das Päckchen ab und ging mit den drei sehr unterschiedlichen aber liebenswerten Damen zum Kaffeetisch.

Unterdessen hatte eine dicke schwarze Amsel auf dem Rasen im Garten von Herbert Trautzsch und Edeltraut Trautzsch ihre Hüpferei beendet. Amseln hüpfen auf dem Rasen, muß man wissen, um Regenwürmer zu veralbern und ihnen vorzugaukeln, es würde regnen. Diese graben sich dann nach oben durch das Erdreich, wo es vermutlich schön feucht ist und zack - schnappen die Amseln zu und fliegen satt, mit einem Regenwurm im Bauch, davon.

So war nun auch die Amsel in Familie Trautzsch's Garten über den grünen Rasen gehüpft und zog kurze Zeit später erfolgreich an einem dicken fetten Regenwurm. Der aber flutschte ihr aus dem Schnabel zurück und flog durch die Luft in Richtung Edeltraut Trautzsch's feine Kaffeetafel.

Dort saßen die vier Damen, tranken mehrere Tassen Kaffee mit Milch und Zucker und schlemmerten hemmungslos ein Stück Erdbeertorte nach dem anderen, natürlich mit reichlich Schlagsahne. Frau Trautzsch freute sich darüber, dass es ihren Freundinnen Elfriede, Sieglinde und Helga schmeckte, denn eine alte Tante von Frau Trautzsch hatte zu Lebzeiten stets an Edeltraut Trautzsch's Backkünsten  gezweifelt. Sieglinde, die stets jammerte, sie sei zu fett; Helga, die, kaum dass sie die erste Tasse Kaffee getrunken hatte, ihr Strickzeug auspackte und mit den Stricknadeln losklapperte - zwei links, zwei rechts; und Elfriede, die am liebsten in ihren Büchern schmökerte und vor dem ersten Eierlikör noch recht wenig sprach, fühlten sich stets sichtbar wohl in dieser geselligen Runde.

Während Frau Trautzsch die Likörgläser füllte, erzählte sie vergnügt, was sie am Ostersonntag in ihrem Garten beobachtet hatte. Sie wollte an diesem Tag gerade die Falten der Küchengardine auf das Maß genau in Ordnung bringen, als sie einen Hasen im Garten sah, der mit bunten Eiern jonglierte und lachte.

Da tippte sich die noch schweigsame Elfriede an die Stirn. "Als ob Hasen mit bunten Eiern jonglieren ...." spottete sie - da sah sie plötzlich aus dem Augenwinkel, wie etwas an ihr vorbeigeflogen kam und in Edeltraut Trautzsch's Likörglas landete. Mit offenem Mund, und ungläubig auf den in Frau Trautzsch's Eierlikör badenden Regenwurm schauend, bemerkte sie nicht die schwarze Amsel, die wohl etwas zu spät in ihrem Anflug bremste. Sie plumpste in die restliche Schlagsahne, die sich spritzend auf den Blusen der Damen verteilte. Kurz darauf schüttelte die Amsel ihr Gefieder, pickte mit ihrem farblich abgestimmten gelben Schnabel den Regenwurm aus dem Eierlikör, würgte diesen hinunter und flatterte singend davon. 

Helga legte das Strickzeug auf ihren Schoß und flüsterte leise: "Also, Edeltraut, ich glaube dir jedes Wort!".

Zur gleichen Zeit hupte es vor dem Haus und eine Autotür schlug zu. Der neue Postbote winkte diesmal mit einem Brief, der zwischen die eierliköramselschnabelgelben Kisten gerutscht war. "Ich habe da noch einen Brief für, ähm ....  Edeltrautzsch", rief er am Gartenzaun. Da konnten sich die vier Freundinnen nicht mehr halten vor Lachen. Frau Trautzsch erholte sich als Erste, holte fünf neue Likörgläser und sagte belustigt zu dem neuen Postboten: "Junger Mann, ich bin die Edeltraut,  Edeltraut Trautzsch. Darf es ein Likörchen sein?" Und so saßen an diesem sonnigen Frühlingsnachmittag eine rüstige Rentnerin mit ihren drei Freundinnen und ihrem neuen Postboten im Garten. Sie lachten, erzählten und nebenbei erklangen Helgas Stricknadeln - zwei links, zwei rechts ......

Übrigens, falls sich der eine oder andere Leser von euch wundert, wo der ruhige Herbert Trautzsch den Nachmittag verbracht hat - ihr könnt euch sicherlich vorstellen, dass dieser es stets vorzog lieber angeln zu gehen, wenn Edeltraut Trautzsch's Freundinnen kamen. Dann saß er an einem See, ringsum war es still, und er genoss die Ruhe ohne Geschwätz, ohne Gelächter und ohne zwei links, zwei rechts - aber stets mit einer kleinen Flasche Eierlikör in seinem Rucksack.

Ende 🌿

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