Erinnerungen und Zukunft



Ariane sah sich um und lächelte. Überall standen wunderschöne Vasen mit Blumen - bunte und einfarbige Sträuße, edle Blumen, Gartenblumen und sogar ein Strauß wilde Kamille. Dieser wirkte im Abendlicht wie ein Gemälde aus einer vergangener Zeit. All diese Sträuße waren im Wohnzimmer ihrer Freundin Katharina verteilt. Auf dem Esstisch stand eine Glasvase mit vierzig gelben Rosen, die Katharina vor zwei Tagen zu ihrem runden Geburtstag von Ariane bekommen hatte. 

Es hatte ein kleines Fest gegeben, mit einem abendlichen Picknick am Ufer eines nahen Sees. Ariane wusste, dass Katharina die Vorliebe für gelbe Rosen von ihrer Mama geerbt hatte, die den vierzigsten Geburtstag ihrer Tochter nicht mitfeiern konnte, und nicht deren dreißigsten, nicht deren zwanzigsten, und auch nicht den ersten doppelstelligen Geburtstag ihrer Tochter erlebt hatte. Als sie starb, war Katharina noch ein kleines Mädchen. All das wusste Ariane über ihre Freundin. Die beiden Frauen kannten sich schon seit ihrer Kindergartenzeit.

Nach der Schule hatte es Ariane in den Norden Deutschlands verschlagen, wo sie als Journalistin bei einer Tageszeitung arbeitete. Katharina war auch nicht in der Heimat geblieben und rund zweihundert Kilometer entfernt als Lehrerin in einer Grundschule tätig.

Ariane, die in diesen Tagen endlich ihre vielen Überstunden abbauen konnte, genoss die Ruhe in der gemütlichen Dachwohnung. Kein Telefon, keine Redaktionssitzung, keine Termine. Noch zwei Tage konnte sie bei Katharina bleiben, die lediglich morgen trotz der Ferien an einer Versammlung in der Schule teilnehmen musste. Und während Ariane in der Küche den Friesentee aufgoss, raschelte Katharina im Schlafzimmerschrank und trug zwei Kartons ins Wohnzimmer. Fast am Ziel, rutschte ihr ein Karton aus dem Arm und unzählige Fotos flatterten durch die Luft. Schwarz-weiß Bilder, Farbfotos und Ansichtskarten lagen später überall verstreut auf dem Laminat. Unzählige winzige Staubkörnchen tanzten im Licht vor den schrägen Dachfenstern. Und so setzten sich die beiden Frauen mit ihren Teetassen auf dicke Kissen zwischen die Fotos, Karten und die auf Papier festgehaltenen Erinnerungen. Katharina im Kindergarten, ein Faschingsfoto mit Katharina und Ariane als Tänzerinnen, Katharina zur Einschulung, im Urlaub mit dem Vater, in den Ferien bei den Großeltern, zur Tanzstunde, zum Schulabschluss und es gab sogar ein Foto, auf dem Katharina mit einer Zahnspange und ihrem ersten Freund zu sehen war. Die beiden Frauen schwelgten in Erinnerungen und lachten über ihre Frisuren vor mehr als dreißig Jahren.

Ein Foto lag dazwischen, das zeigte Katharina als Baby auf dem Arm ihrer Mama; schon gezeichnet von der schweren Krankheit, aber stolz und liebevoll auf ihre Tochter blickend. Katharina zog den zweiten Karton heran, dessen Inhalt sie bisher niemandem gezeigt hatte. In diesem Karton waren einzig die Fotos ihrer Mama - als Kleinkind auf dem Arm von Katharinas Großmutter und später als junge Frau mit ihrer Mutti. Die enge Bindung der beiden Frauen war unübersehbar. Katharina seufzte. Auch die Großmutter lebte nicht mehr. Sie war die einzige, die ihr stets von der Mama erzählt hatte. Der Vater hatte geschwiegen und mit einer sehr jungen Frau Jahre später eine neue Familie gegründet. Ein Grab von Katharinas Mutter gab es nicht, zumindest wusste Katharina nichts davon.

Ariane schaute ihre Freundin lange an und dachte darüber nach, dass Katharina nun die älteste Frau in ihrer Familie war. Ihre Zwillinge waren am Morgen zurück nach Berlin gefahren, wo sie studierten und dabei waren, sich ein eigenes Leben aufzubauen.

Katharina fand in dem Karton neben vielen Fotos auch amtliche Schreiben und verschiedene Geburts- und Sterbeurkunden ihrer Oma, vom Opa, deren Eltern und Großeltern. Der von Katharina angelegte Stammbaum ihrer Familie reichte zurück bis 1843. Auf der Sterbeurkunde ihrer Mutter stand keine Todesursache, nur die Stadt, in der sie in einem Krankenhaus gestorben war.

Auf drei schwarz-weiß Fotos war Katharina als Kleinkind zu sehen. Zu diesen Fotos hatte ihr die Oma einst gesagt, dass der Anlass ein Besuch bei der Mutti im Krankenhaus gewesen war. Katharina schaute das Foto lange an und Ariane sah die Traurigkeit in den Augen ihrer Freundin, die so wenig von ihrer Mutti wusste und ihr doch so ähnlich sah.

Arianes Spürsinn war geweckt. Nicht umsonst war sie mit Leib und Seele eine gute Journalistin. Katharina nahm freudig Arianes Hilfe an, um mehr über ihre Mutti zu erfahren. Mit ihrem Einverständnis fotografierte Ariane die drei Fotos ab und schickte diese an ihre Schwester, die in der Stadt lebte, in der Katharinas Mutti laut ihrer Sterbeurkunde verstorben war. Die beiden  Freundinnen sprachen an diesem Abend noch lange miteinander, bis sie müde ins Bett fielen.

                      ◇

Als Ariane im ICE auf der Heimfahrt war, klingelte ihr Handy. Ihre Schwester hatte auf den alten Fotos im Hintergrund die Klinik erkannt, vor der Katharina als Kleinkind abgelichtet war. Ariane fand im Internet wonach sie suchte und schrieb eine Mail an diese Klinik. Nachdem sie ein paar Tage später Antwort erhielt und Kopien aller noch nötigen Unterlagen zurück mailte, bekam sie dort einen kurzfristigen Termin.

Diesmal fuhr sie mit dem Auto und erreichte ihr Ziel nach vier Stunden. Je näher Ariane der Stadt kam, desto nervöser wurde sie. Wie gern würde sie für Katharina etwas herausfinden. Da sie zeitig losgefahren und eine staufreie Fahrt hinter sich hatte, war sie überpünktlich vor der Klinik angekommen, die sie von den Fotos her kannte. Später würde sie sich mit ihrer Schwester zum Essen treffen. Sie war müde, döste im Auto und dachte an die Reportagen, in denen es um vermisste oder angeblich verstorbene Menschen ging. Was glaubte Ariane zu erfahren? Sie schreckte hoch und sah auf die Uhr. In fünf Minuten war ihr Termin bei der Verwaltungschefin.

Deren Büro hatte ein riesiges Fenster mit Blick auf den Park, wo das Foto von Katharina vor über dreißig Jahren aufgenommen wurde. Die Dame war nicht besonders redselig und als sie erfuhr, dass Ariane als Journalistin tätig war, beendete sie sofort das Gespräch. Doch Ariane war nicht umsonst gekommen. Die Sekretärin, mit der sie per Mail in Kontakt gestanden hatte, winkte ihr heimlich zu. Sie hatte alles, was es über Katharinas Mutti zu finden gab, als Kopien in einer Akte zusammengefasst und legte diese so, dass Ariane die Unterlagen abfotografieren konnte, während sie ihrer Chefin eine Tasse Kaffee brachte.

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Die Schule hatte wieder begonnen und Katharina erlebte mit viel Freude eine neue erste Klasse. Ihrer Einladung zum Elternabend, der in wenigen Stunden beginnen würde, waren viele Zusagen gefolgt. Sie war gespannt auf die Fragen der Eltern und wer von ihnen in der neu zu wählenden Elternvertretung die nächsten zwei oder gar vier Jahre mit ihr als Klassenlehrerin zusammenarbeiten würde. Katharina war auf dem Weg zu ihrem Auto, als ihr Handy klingelte. Sie sah auf dem Kontaktbild Arianes Foto und freute sich auf das Gespräch mit ihrer Freundin. Seit ihrem Wiedersehen waren drei Wochen vergangen.

Ariane konnte berichten, dass sie bei ihren Recherchen auf etwas gestoßen sei und sie sich mit Katharina  treffen wolle. Sie verabredeten sich für das übernächste Wochenende, Ariane würde zu ihr kommen. 

Was Katharina nicht wusste war, dass Ariane tatsächlich etwas wichtiges herausgefunden hatte. Auf den Kopien in der Klinik war ihr ein Hinweis zu einem Bestattungsunternehmen aufgefallen. Nach einem Anruf dort erfuhr Ariane, auf welchem Friedhof Katharinas Mutti beigesetzt war. Dort in der Nähe hatte sie in einer kleinen Pension bereits zwei Zimmer gebucht.

                         ◇

Die alte Friedhofstür quietschte, als Katharina diese vorsichtig öffnete. Es war  sehr warm an diesem Spätsommertag. Der Pfarrer der kleinen Dorfkirche kam ihnen entgegen und begrüßte Katharina und Ariane freundlich. Er führte die beiden Frauen zu einem Grab, unweit einer großen Linde. Es war das Grab von Katharinas Mutti. Der helle Grabstein war sauber und auf dem gepflegten und von Efeu umrankten Grab stand ein frischer Strauß gelber Rosen ......

Katharina berührte vorsichtig die Schrift auf dem kühlen Stein. Ariane konnte Katharinas Gedanken lesen. Hier also war ihre Mutti seit über dreißig Jahren beigesetzt und hier konnte sie ihr endlich nah sein. Doch wer pflegte dieses Grab noch immer, nach so langer Zeit? 

Auch Ariane fragte sich, wer dieses Grab  in Ordnung hielt. Und vor allem, wer außer Katharina wusste, welches die Lieblingsblumen der Toten waren? Wen gibt es da also außer Katharina noch .......

Ende 🌿


PS: Diese Geschichte ist zum Teil frei erfunden, der Rahmen jedoch gehört zum Lebens einer Frau, für die ich diese Worte aufgeschrieben habe.

Für meine Freundin L.




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