Der stille Tod und die Macht des Duftes


Das beleuchtete Taxi stand im Licht der alten Straßenlaterne unter einer großen Kastanie. Durch den Schnee, der die Äste überzogen hatte, sah der Baum mit seiner gewaltigen Krone nicht mehr ganz so kahl aus. Auch der angrenzende Park wirkte durch das Weiß frisch und rein. In wenigen Tagen würde es anders aussehen, wenn es wärmer werden, der Schnee zu schmelzen beginnen und sich der Schmutz der Stadt im Weiß zeigen würde. Doch vorerst, so hatte zumindest der Nachrichtensprecher im Autoradio angekündigt, würde es kalt bleiben.

Ronny, der Taxifahrer, kratzte sich unter der braunen Wollmütze am Kopf. Eigentlich nannten ihn alle Ron, nur seine Mutter nicht. Schon als Kind hatte er die Schultern hochgezogen, wenn sie hinter ihm laut seinen vollen Namen rief. Doch das war nun schon über dreißig Jahre her.

Er fuhr seit dem Morgen dieses Taxi und weil sein Kollege sich für heute krankgemeldet hatte, würde er noch bis zum Abend hinter dem Lenkrad sitzen. Ron resümierte den bisherigen Tag und überschlug in Gedanken, wieviel Geld in der Kasse sein müsste. Sein erster Fahrgast war am Morgen eine Frau, die mit einem schweren Koffer und einer großen Tasche bepackt war. Anfangs schien sie sehr aufgeregt zu sein und zupfte nervös an ihrem orange-roten Tuch. Doch je kürzer die Distanz zum Flughafen wurde, mit jedem Kilometer, den sie fuhren, wurde sie ruhiger und lächelte unter ihren Sommersprossen immer mehr. Ihr Parfüm hing noch immer im Taxi und ihr vor Freude strahlendes Gesicht, als sie bezahlte, würde er so schnell nicht vergessen. Ron schloss die Augen und atmete ihren Duft durch die Nase ein. Dann dachte er an die anderen Fahrgäste, die vom Bahnhof oder nach einem Restaurantbesuch nach Hause gebracht werden wollten - manche waren müde und andere in ewig lange Monologe verstrickt. Die letzte Tour hatte Ron mit einer älteren Dame, der er die Treppen hoch in eine Arztpraxis geholfen hatte. Seit ungefähr einer halben Stunde stand er nun hier unter der Kastanie und das montone Brummen der Standheizung ließ ihn müde werden.

Ron hörte wenig später ein energisches Klopfen an der Frontscheibe. Er schreckte hoch, öffnete die Augen und sah einen gepflegten Mann im Anzug, der fröstelnd den hochgestellten Kragen seines Mantels zuhielt. Ron nickte und betätigte den Schalter, der das Licht des Taxischildes auf dem Dach löschte. Sein neuer Fahrgast setzte sich auf die Rückbank, stellte einen dunkelgrauen Koffer neben sich, brummte die Adresse eines Hotels in der Innenstadt und begann dann leise zu telefonieren. Deutsch mit starkem schwedischen oder dänischen Akzent, dachte Ron und versuchte mit dem Mann im grauen Anzug ins Gespräch zu kommen. Irgendwie schien an dem Mann alles grau zu sein. Doch der Skandinavier blickte schweigend aus dem Fenster. Nach zwanzig Minuten war das Taxi am Ziel, Ron nannte den Preis den das Taxameter anzeigte und blickte in den Rückspiegel. Sein Fahrgast schien eingeschlafen zu sein. Als der Mann auch auf Ron's nun lautere Stimme nicht reagierte, stieg er aus dem Auto, öffnete die hintere Tür und tippte seinen Fahrgast auf der Rückbank an. Ron erkannte entsetzt, dass dieser gar nicht schlief sondern mit leerem Blick auf seine Hände starrte. Auch sein Gesicht war nun grau.

Der Taxifahrer holte tief Luft, funkte die Zentrale an und hörte kurze Zeit später die Sirene des Rettungswagens immer näher kommen. Dann ging alles sehr schnell. Ron dachte noch, dass in seinen Kriminalromanen stets ein müder Kommissar und kurz darauf die Spurensicherung erschienen, der Tatort abgesperrt und Zeugen befragt wurden. Doch der leblose, graue Mann wurde in den Rettungswagen geschoben und innerhalb kürzester Zeit war dieser abgefahren. Ron kratzte sich erneut unter seiner braunen Wollmütze am Kopf und sah in das warme Licht der alten Straßenlaterne. In jenem Moment war Ron froh, dass in diesem Stadtteil noch nicht solche modernen Lampen mit ihrem kalten Licht die Straßen erhellten. Ihm fröstelte plötzlich sehr.

Ron setzte sich in sein Taxi und sah im Rückspiegel den dunkelgrauen Koffer auf der Rückbank liegen. Er drehte sich um und nahm den Koffer zu sich nach vorn. Ron überlegte, was der Koffer wohl beinhalten würde - die private Kleidung des Mannes, Unterlagen in Papierform, Geld, Drogen oder wohlmöglich einen geheimen Stick?

Du scheinst eindeutig zu viele Krimis zu lesen, mein Freund, dachte er bei sich und öffnete vorsichtig den Koffer. Ron sah erstaunt auf den Inhalt. Im Koffer lag lediglich ein orange-rotes Tuch, mehr nicht. Solch ein Tuch hatte er heute schon einmal gesehen. Und noch etwas erkannte Ron - den Duft der Frau, die das Tuch heute Morgen getragen hatte.

"Ronny, bist du es?", erklang die neugierige Stimme seiner Mutter, noch bevor er die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Der Geruch von  gebratenen Bouletten mit Kartoffeln und frisch zubereitetem Rosenkohl, seinem Lieblingsessen, empfing ihn, während er nachdenklich seine Jacke an den Garderobenhaken hing und den dunkelgrauen Koffer dazustellte. Seine Mutter machte die besten Bouletten der Welt, einzig ihre Neugier war noch intensiver als ihre Kochkunst.  Ihre Fragen drangen gleichzeitig an sein Ohr, wie sein Tag war, ob er interessante Fahrgäste gehabt hätte und wie groß sein Hunger sei. Die vielen Fragen seiner Mutter hätten Ron an anderen Tagen nach so vielen Stunden im Taxi müde gemacht. Aber heute konnte er es kaum erwarten ihr von seinem Tag zu erzählen. Ron verspeiste genüsslich sein Abendessen und schmeckte die Gewürze von Kümmel und Muskatnuss, die er so liebte. Nach dem Essen berichtete  Ron dann aufgeregt von der wortwörtlich letzten Reise des grauen Mannes und seines geheimnisvollen Koffers, während seine Mutter ihm gegenüber saß und ihn mit offenem Mund ungläubig anstarrte.

Sie blieb unerwarteter Weise still, ihre einzigen Worte waren, dass sie das ebenfalls sehr merkwürdig fand. Ron trug seinen leeren Teller in die Küche und brachte auf dem Rückweg den Koffer mit zum Esstisch. Er öffnete diesen erneut und nun schauten vier Augen gebannt auf das orange-rote Tuch. Wieder atmete Ron diesen besonderen Duft ein. Seine Mutter fragte besorgt was er jetzt tun würde, doch Ron wusste es selbst nicht.

Er achtete später auch nicht auf den Mann, der sich auf der anderen Straßenseite eine Zigarette anzündete und zu ihm hinaufschaute, während Ron das Rollo hinunterzog und somit die Dunkelheit der Nacht aussperrte. Unruhig wälzte er sich im Bett hin und her, dachte an die Frau mit dem Tuch, an den besonderen Duft und fand erst im Morgengrauen in den Schlaf.

Ein Anruf der Funkzentrale weckte Ron. So erfuhr er, dass sein gestern noch kranker Kollege jetzt wieder im Dienst sei und Ron heute seine Überstunden gleich abbauen solle. Er fasste den Entschluss zum Flughafen zu fahren und sich dort umzuhören.

Auf seine irritierte Frage wo denn der Koffer sei, hob seine Mutter nur fragend die Hände; hatte er ihn doch am Abend wieder an der Garderobe abgestellt. Als Ron die Einbruchsspuren an der Haustür sah, zog er, noch ohne zu frühstücken, seine warme Winterjacke an und fuhr statt zum Flughafen mit seinem Taxi zur Polizei. Im Rückspiegel sah er, wie zeitgleich ein silbernes Auto startete und ihm im dichten Verkehr langsam in gleicher Richtung folgte.

Eine kleine, rundliche Polizistin mit wachen Augen, hörte ihm aufmerksam zu, telefonierte und brachte Ron in ein anderes Büro. Dort saß er nun, der müde Kommissar aus seinen Kriminalromanen. Ron musste schmunzeln und spürte, dass die Chemie zwischen den beiden Männern passte. Und so berichtete der Taxifahrer von seinem letzten Fahrgast und von der Frau mit dem orange-roten Tuch, das sich später in dem Koffer befand, der letzte Nacht aus seinem Haus gestohlen wurde. Der Kommissar hörte aufmerksam zu, schickte zwei Kollegen zur Aufnahme des Einbruchs zum Haus des Taxifahrers und führte ein Telefonat mit dem Krankenhaus. Von einem toten Fahrgast eines Taxis gestern Abend war dort nichts bekannt. Als Ron später seine Aussage gemacht hatte, konnte er gehen. 

Auf dem Weg zu seinem Auto überschlugen sich seine Gedanken. Den Mann an dem silbernen Wagen, der hinter ihm geparkt hatte, nahm er als letztes wahr, dann wurde es dunkel um Ron. Auf dem Fußweg, im weichen Schnee sitzend und an sein Auto gelehnt, erwachte er kurze Zeit später und befühlte seinen schmerzenden Kopf. Das Handschuhfach stand offen und auch schien das Taxi komplett durchwühlt worden zu sein. Er fragte sich, in welche verdammte Situation er da bloß geraten war. Ron fuhr nach Hause. Er spürte nun die Folgen der schlaflosen Nacht und wie sehr sein Kopf schmerzte.

Nach einer heißen Dusche und mit einem starken Kaffee in der Hand, saß Ron auf dem Sofa. Seine Mutter hatte ihm aufmerksam zugehört und legte ihr Handy vor ihm auf den Tisch. Darauf war ein Foto von ihr selbst zu sehen, doch trug sie um den Hals und die Schultern das orange-rote Tuch. Sie hatte es sich am Abend zuvor kurz umgelegt und ein Foto von sich gemacht, da ihr der weiche Stoff und die warmen Farben so gut gefallen hatten. Später hatte sie das Tuch zurück in den Koffer gepackt. 

Ron schaute ungläubig, umarmte die neugierige Frau, der er so ähnlich sah und startete Minuten später erneut sein Taxi. Diesmal führte ihn sein Weg zum Flughafen. Ron versuchte sich zu erinnern - was hatte die Frau ihm gestern erzählt, wann ging ihr Flieger? Er hatte sich so von ihrem Duft, dem Tuch und dem später so glücklichen Gesichtsausdruck dieser Frau einnehmen lassen, dass er ihr gar nicht richtig zugehört hatte. Irgendwann gegen elf Uhr, jetzt fiel es ihm wieder ein, sollte ihr Flieger starten. Vor lauter Grübelei bemerkte Ron nicht den Fahrer im silbernen Auto hinter ihm.

Die Dame am Servicepoint war anfangs sehr verhalten, als sie einem Mann gegenüberstand, der mit müden Augen  aufgeregt etwas von einer Frau und einem Tuch erzählte und wissen wollte, welche Ziele die Airlines gestern gegen elf Uhr angeflogen seien. Und so begann Ron an den verschiedenen Schaltern der in Frage kommenden Airlines nach der Frau zu fragen. Zwar konnte er das Foto vom Tuch zeigen aber darauf war ja seine Mutter zu sehen, was das Bodenpersonal noch zusätzlich verwirrte. Doch dann hatte er Glück. Eine Mitarbeiterin des Reinigungsservice, die inzwischen auf Ron aufmerksam geworden war, erkannte das Tuch und zeigte Ron den Weg zum Fundbüro, wo der Koffer und die Tasche, die am gestrigen Tag für Aufsehen gesorgt hatten, abgestellt waren. Von der Besitzerin gab es weit und breit keine Spur, als hätte der Erdboden sie verschluckt.

Nachdem Ron am nächsten Morgen in sein Taxi gestiegen war, bemerkte er die Gestalt auf der Rückbank erst, als er den Motor starten wollte. Ohne sich umzudrehen wusste er, wer schräg hinter ihm saß. Ihr Duft hatte die Frau mit den Sommersprossen verraten. Doch heute war ihre Stimme leise und unter ihren Augen waren dunkle Schatten. Langsam startete Ron das Taxi, er kannte ein Cafè, dort waren die Scheiben getönt. Man konnte hinausschauen aber nicht gesehen werden - auch nicht aus einem silbernen Auto heraus. Und dort, bei einer Tasse Kaffee, erzählte ihm die Frau ihre Geschichte, die Geschichte einer großen Liebe. Sie strich behutsam eine gefaltete Serviette glatt und blickte dabei auf ihre Hände. Eine Träne rollte über ihre Wange und fiel auf den Ärmel ihrer blauen Bluse, wo ein runder, nasser Fleck entstand.

Vor einem halben Jahr hatte sie Jörge, der sich wie so oft auf einer Dienstreise in der Stadt befand, kennengelernt, als sie an einer Kreuzung gedankenversunken bei Rot in seinen Leihwagen gefahren war. Außer den Blechschäden an beiden Autos war nichts weiter passiert. Und doch blieb dieser Unfall nicht ohne Folgen. Die Beiden verliebten sich ineinander.

Jedoch war Jörge in Kopenhagen mit einer Frau aus Palermo verheiratet, die aus einer einflussreichen Familie und aus reichem Hause stammte und von der man sich nicht einfach so trennte. Sie hatte rasch Verdacht geschöpft, mit ihrem Vater gesprochen und dieser hatte einen skurrilen Privatdetektiv engagiert. Dieser  machte einen guten Job und informierte umgehend die Familie von Jörges Frau, die ihren Einfluss und ihre Machenschaften im Norden Europas ausgeweitet hatten. Für Jörge blieb nur der Ausweg, sich mit seiner Geliebten, die nun mit Ron in diesem Cafè saß, abzusetzen. Sie wollten sich am Tag zuvor am Flughafen treffen und später nach Wien fliegen.

Der Rest der Geschichte war simpel aber tragisch. Jörge hatte bei seinem letzten Aufenthalt etwas Geld zur Seite gelegt und wollte es aus dem Hotel, in dem er jedes Mal abgestiegen war, holen. Um seiner Geliebten während der Fahrt nah zu sein, hatte sie ihm ihr orange-rotes Tuch gegeben, an dem ihr Duft hing. Auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel war das erste Taxi in einen Stau geraten und Jörge zu Fuß weitergegangen, bis er zu Ron in das Auto gestiegen war. Der Anruf aus Ron's Taxi war das letzte Lebenszeichen von Jörge, flüsterte die Frau leise. Wie Jörge ums Leben gekommen war, würde sie nie erfahren.

Dann öffnete sie ihre Handtasche, holte das orange-rote Tuch hervor und legte es sich weinend um. Ron brachte kein Wort hervor und schaute die Frau fragend an. Trotz ihrer Tränen in den Augen lächelte sie jetzt und erzählte Ron, wie sie sich gestern Abend ihr Tuch vom Fahrer des silbernen Wagens zurückgeholt hatte. Dieser Detektiv und Mörder würde niemandem mehr Bericht erstatten können! Was aus Jörges Leichnam geworden war, konnten sie nur ahnen. Vermutlich würde er in der Nähe von Palermo beigesetzt werden, wo seine Witwe standesgemäß einen schwarzen Schleier tragen und in Kürze einen anderen Mann heiraten würde. Einen Mann, ganz sicher nach dem Geschmack der Familie.

Ron fuhr die Frau ohne das Taxameter anzustellen zum Flughafen, wo sie ihr Gepäck holte und nun alleine nach Wien fliegen würde. Zu groß war ihr Schmerz, zu viele Erinnerungen in der Stadt und zusätzlich ein toter Detektiv, mit dem sie nicht in Verbindung gebracht werden wollte. Das Puzzle um Ron's eigene Person fügte sich auf der Rückfahrt zusammen. Wahrscheinlich hatte der Fahrer des silbernen Wagens, der Detektiv der Familie von Jörges Frau, vermutet, dass in dem Koffer bereits das Geld war, welches Jörge aus dem Hotel holen wollte. Nachdem er Jörge vergiftet hatte, brauchte er nur noch den Koffer, den Ron aber an sich genommen hatte. Sein Besuch bei der Polizei hatte mächtig Staub aufgewirbelt, der Ron beinahe zum Verhängnis geworden wäre.

All das erzählte Ron am Abend seiner Mutter, die heute eine deftige Kartoffelsuppe gekocht hatte, zu der es Wiener Würstchen gab. In der Küche roch es intensiv nach Majoran. Gedankenversunken kaute Ron an einem Wiener. Wie wäre es wohl der Frau und Jörge ergangen, hätten sie das Flugzeug am Tag zuvor gemeinsam besteigen können? Wäre ihnen die Flucht vor der Mafia gelungen? 

Wien ist eine schöne Stadt, dachte Ron kauend; vielleicht das Ziel seiner nächsten Urlaubsreise.

                                    

Ende


PS: Für das schwarz/weiß Foto möchte ich mich herzlich bedanken, da ich das Haus nicht verlassen konnte, um diese Aufnahme in der Altstadt zu machen. 

Kommentare