Die Weihnachtsmaus - 4. und letzter Teil



Die Worte, die durch den Stoff der warmen Winterjacke zu Amanda drangen, waren leise und gedämpft. Amanda spürte, dass die Bewegungen gestoppt hatten. Unsere Weihnachtsmaus hörte eine warme, tiefe Stimme und eine hohe, freundliche Stimme, die der warmen Stimme antwortete. Und da war noch eine leise, junge Stimme, die ihr am nächsten war.

Was Amanda nicht wusste war, dass sie nicht mehr im Kaufhaus sondern mit dem kleinen Menschen und seinen Eltern im Auto saß. Der Junge, der auf der Rückbank angeschnallt war, sprach nicht viel. Er war ein schweigsamer und eher in sich gekehrter 9jähriger Junge. Er hatte nicht viele Freunde, zog sich oft in sein Reich zurück und malte dann mit blauer Farbe, seiner Lieblingsfarbe, auf einer Staffelei, die neben dem Fenster stand. Die Kunstlehrerin in der Schule sah nur was sie sehen wollte, nicht aber das Talent des Jungen. 

Die warme, tiefe Stimme gehörte zum Vater des Jungen, der das Auto sicher nach Hause lenkte. Mit der freundlichen Stimme sprach vom Beifahrersitz aus die Mama des schweigsamen Jungen. Amanda lauschte angestrengt den Stimmen. Doch das monotone Geräusch des Motors ließ Amanda müde werden und so schlief sie ein.

Amanda träumte von dem Wald, in dem sie bisher gelebt hatte, von ihrer Reise auf dem grossen LKW, von der Tanne auf dem Markt, den Düften im Kaufhaus und dem Ho Ho Ho des Mannes im roten Mantel. Unsere Weihnachtsmaus verschlief die Fahrt zum Haus der Familie des Jungen. Sie verschlief, wie sich der Junge beim Händewaschen im Spiegel betrachtete, sich am Schreibtisch bei den Hausaufgaben mühte, lustlos in seinem Abendessen stocherte und wie er später, als im Haus alles schlief, leise seinen alten Hamsterkäfig aus dem Keller holte.

Amanda erwachte erst, als sie wieder die kleine Hand spürte, von der sie vorsichtig aus der Jackentasche geholt wurde. Der Junge hielt unsere Weihnachtsmaus in der Hand und dicht vor sein Gesicht. So sahen sich die Beiden eine Weile direkt in die Augen. Plötzlich lächelte der Junge; es war, als könne er die Gedanken von Amanda hören. Diese hielt den Kopf etwas schief und blinzelte mehrmals. Und so erfuhr sie, was den Jungen bedrückte, der sich mit der anderen Hand durch das Haar fuhr, und der Junge wusste nun, dass Amanda schon wieder hungrig war. Das ist ja verrückt, dachte er und nickte Amanda zu. Er setzte sie vorsichtig in den Käfig und schlich sich leise in die Küche. Mit etwas Käse und einer Scheibe Wurst kam der Junge zurück und beobachtete unsere verfressene Weihnachtsmaus, die in kurzer Zeit alles verspeiste. 



Dann setzte er Amanda auf sein Kopfkissen, zog seinen Schlafanzug an und unterhielt sich mit ihr auf diese Art, still und ohne gesprochene Worte.

So ging es mehrere Tage. Die Mama des Jungen wunderte sich, dass der Kühlschrank immer leerer wurde. Erst hatte sie ihren Mann in Verdacht, der sehr oft und sehr gern vor dem Schlafengehen die Kühlschranktür öffnete. Aber dann sah sie, wie sich der Junge veränderte. Sein Gesicht wurde rosiger, er lächelte öfter und erzählte viel mehr als sonst. Manchmal hörte sie ihn am späten Abend leise die alte Holztreppe hinunterschleichen und vermutete, er hätte die Angewohnheit seines Vaters angenommen und würde am Kühlschrank naschen.

Am Morgen des Heiligabends erblickte die Mama beim Staubsaugen auf der Staffelei das Bild einer blauen Maus. Sie konnte ganz genau die Knopfaugen erkennen und die feinen Haare an der spitzen Nase. Als am Abend die Lichter des Weihnachtsbaumes brannten und die Bescherung beginnen sollte, riefen die Eltern nach dem Jungen. Er kam freudig in das Wohnzimmer, hielt aber etwas hinter seinem Rücken. In seiner Hand schlief eine braune Maus. Amanda räkelte sich und öffnete ihre schwarzen Knopfaugen. Erst schauten Mama und Papa ungläubig, dann streckte die Mama der kleinen Maus die Hand entgegen und nahm sie vorsichtig näher zu sich. Unsere Weihnachtsmaus kuschelte sich in die warme Hand der Mama und begann auch mit ihr ein stilles Gespräch zu führen. 



Vergessen waren der Weihnachtsbaum, die Geschenke unter den geschmückten Zweigen und auch auf die leise Musik hörte keiner mehr. Als Amanda ihr Spiegelbild in einer glänzenden roten Weihnachtsbaumkugel erblickte, strahlten ihre schwarzen Knopfaugen und sie blinzelte erneut.

Bald gab es in dieser Familie keine Geheimnisse mehr. Die Mama erfuhr von der strengen Kunstlehrerin und auch, wie oft der Papa des Jungen sich nachts heimlich ein Stück Käse mit Amanda teilte. Dieser wiederum erfuhr von Amanda, wo sein Geburtstagsgeschenk versteckt war, und der Junge wusste bald, dass er ein Geschwisterchen bekommen würde.

Unsere Weihnachtsmaus hatte nun ihr Zuhause gefunden. Einen Käfig brauchte sie bald nicht mehr. Sie lebte viele Jahre bei der Familie, länger als normale Mäuse leben, sie war eben eine besondere Maus. So manche Nacht lachte die Mama, wenn aus der Speisekammer ein leises Knabbern tönte. Dann wusste sie, Amanda hatte noch Hunger.


Ende

PS: ....wenn auch ihr nachts ein leises Geräusch vernehmt, ein Rascheln, ein Knabbern oder ein Nagen, denn denkt nicht gleich an böse Geister. Vielleicht habt ihr auch eine kleine Weihnachtsmaus im Vorratsschrank. 

Mit dem Ende dieser Geschichte haben nun alle Väter eine Ausrede, wenn sie heimlich etwas aus dem Kühlschrank genascht haben - das war dann nämlich ganz sicher die kleine Weihnachtsmaus Amanda. 




... und vielen Dank für die Fotos der kleinen Weihnachtsmaus 🐭. 




Kommentare

  1. Ich fand alle vier Teile gut die waren spannend. Froh Weihnachten 🎄

    Vinci

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  2. Das freut mich, lieber Vinci. Ich wünsche dir, deinem Bruder, Mama & Papa auch ein schönes Weihnachtsfest und einen fleißigen Weihnachtsmann. Vielleicht legst du ein Stückchen Käse unter den Weihnachtsbaum 🐭. Wer weiß....? Viele Grüße von Henriette

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