Das unverhoffte Licht der Hoffnung


Die rote, schlanke Hülse an dem langen Holzstab war noch in ihrer Verpackung vom letzten Jahr. Die Rakete lag vergessen im Schrank; vergessen, als letztes Jahr Silvester der Himmel über der Stadt um Mitternacht hell erleuchtete. Sämtliche Raketen, die erst zischten, dann knallten und die in allen Farben erstrahlten, kurz bevor sie verglühten, trugen Wünsche in sich, überall auf der Welt. Das war auf den Tag genau vor zwölf Monaten. 


Heute jedoch bleibt der Nachthimmel dunkel. Kein Zischen, kein Knallen und kein Leuchten. Und ab 21 Uhr werden, zumindest hier im Auenland, auch keine Menschen mehr auf den Straßen unterwegs sein.

Aber das alles wusste die Rakete nicht. Einsam lag sie neben einem Paar ausrangierter dunkelgrüner Gummistiefel in einem alten Schrank und wartete. Die Rakete hatte das ganze Jahr über gewartet und dabei den Gesprächen der Hausbewohner des Mehrfamilienhauses gelauscht - den Frauen, die ihre Waschmaschinen füllten; den Männern, die Fahrräder flickten oder diverse Gründe vorschoben, um mit anderen Männern des Hauses ein Bier zu trinken, den Kindern, die bei Regenwetter im Keller Verstecke spielten ..... und sie lauschte dem Knabbern und Nagen der Weihnachtsmaus, die sie aus ihren schwarzen Knopfaugen ansah.

So verging ein Jahr und mit jedem Monat wurde die Weihnachtsmaus dicker, wurden jedoch die Gespräche der Hausbewohner leiser. Die Rakete hörte, wie die Pläne der Menschen platzten und spürte, wie deren Leichtigkeit immer mehr verflog.

Sie beobachtete ein junges Paar, das sich seit dem Herbst jeden Abend heimlich im Keller traf und küsste. Die Beiden waren voller Träume und planten, gemeinsam nach der Schule an der gleichen Universität zu studieren, vielleicht auch zusammenzuziehen. Noch war ihre Liebe jung. Und doch konnten sie diese nicht unbeschwert genießen, ihre Freunde nicht treffen.

An diesem Abend fanden die Beiden die Rakete. Hätten sie doch voneinander die Gedanken hören können - so die Rakete, die das alles nicht verstand und sich darauf freute, dieses Jahr endlich um Mitternacht am Nachthimmel zu strahlen. Und was dachte das junge Paar? Einerseits war das Zünden von Raketen in dieser Silvesternacht untersagt, andererseits wollten sie im Licht der Rakete voller Freude und Hoffnung das neue Jahr begrüßen.

Die Menschen der Stadt standen um Mitternacht mit Abstand vor ihren Häusern, trugen ihren Mundschutz und nickten sich zu. Manche schauten aus ihren Fenstern, andere Fenster blieben dunkel. So sah es auch vor und in diesem Mehrfamilienhaus aus. Alle Menschen zählten rückwärts, als es die letzte Minute auf Mitternacht zuging. Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins ..... 

Ein einziges Zischen, ein einziges Knallen und ein einziges wunderschönes Licht erhellte um Mitternacht den Himmel über der Stadt. Die Rakete war wie ein Goldregen, der vom Himmel fiel. Sie wunderte sich, wo all die anderen Raketen blieben und spürte plötzlich, dass sie etwas ganz Besonderes war. Was sie aber nicht wusste war, dass alle Menschen der Stadt mit dieser einzigen Rakete ihre Wünsche in das neue Jahr schickten. 

Die Wünsche der Menschen ähnelten sich in dieser Nacht - es ging nicht um ein neues Auto, einen noch tolleren Job, noch mehr Geld oder was auch immer in den Jahren zuvor die Menschen sich gewünscht hatten. Nein, es war der Wunsch nach Hoffnung, Gesundheit, Freude, Perspektive, Glück, dem wieder selbst entscheiden können und dem Wunsch nach dem Zusammensein der Menschen, die sich nacheinander sehnen aber nicht beieinander sein können.... 

Überall in der Stadt sahen die Menschen dieses Licht der Hoffnung am Himmel - die Menschen des Mehrfamilienhauses, andere Menschen in einer Nebenstraße und in anderen Stadtteilen, die Bewohner des Pflegeheimes, die Kranken im Krankenhaus, die Kinder auf den Armen ihrer Eltern, die Einsamen, die Glücklichen, die Nachdenklichen, die Traurigen - und ganz in ihren Kuss versunken, das junge Paar, neben sich die leere Flasche und das Feuerzeug, mit denen sie die Rakete auf ihren Weg geschickt und somit den Menschen ein Licht der Hoffnung geschenkt hatten. 

Ende


Für Thea 



PS:  Mit diesem Licht der Hoffnung möchte ich allen Leserinnen und Lesern einen guten "Spurwechsel" 2020 / 2021 wünschen. Jeder hat seine persönlichen Wünsche. Mögen diese alle in Erfüllung gehen, wir haben uns das verdient. 

Eure Henriette 



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