Der Klang der handgeschrieben Worte




Helene saß an einem regnerischen Sonntagmorgen an ihrem Schreibtisch und schaute aus dem Fenster. Sie sah zu, wie sich die Regentropfen am Glas zu feinen Rinnsalen zusammenfanden und den Weg herab zum Fensterbrett nahmen. Fast wie auf dem Glas an der nassen Duschtür, dachte Helene.

Vorbei war der heiße Sommer, die noch warmen Tage des Herbstes. Vor ihrem Fenster war Regen und das Grau des Novembers - und immer wieder dachte sie an den Sommer, seine Wärme und die mit dem Sommer verbundenen Düfte und Geräusche.

Helene hatte sich entschieden, heute ihren Schreibtisch aufzuräumen, da das Wetter nicht zum Verlassen der Wohnung einlud. Ihr Schreibtisch war ein alter Sekretär, den sie von den Großeltern geerbt hatte. Wenn sie das Schloss öffnete und das halbrunde Holzrollo knarrend nach oben schob, dann konnte sie oberhalb der Schreibfläche die vielen kleinen Fächer sehen, in die sie die letzten Wochen hinweg die Post einfach nur achtlos hineingelegt und lediglich die Rechnungen bezahlt hatte. Unterhalb der Schreibfläche, waren links und rechts jeweils die größeren Türen, hinter denen sich die Ordner befanden und wo alte Fotoalben, gesammelte Postkarten und ihr liebgewonnene Briefe lagen.

Helene seufzte und begann mit den kleinen Fächern. Sie sortierte, lochte und heftete ihre Ablage in die jeweiligen Ordner, ärgerte sich über die zwei Briefe vom Ordnungsamt, weil sie erst falsch geparkt und eine Woche später in der Innenstadt zu schnell unterwegs gewesen war.

Gegen Mittag wurde der Regen stärker und trommelte nun merklich laut an das Fenster. Helene stützte ihren Kopf auf und seufzte erneut. All diese Briefe waren uninteressant und von keiner Bedeutung, die Post von heute bestand immer mehr aus Werbung, Rechnungen, Vorsorge oder waren amtlichen Inhaltes.

Sie dachte an die Zeiten, als sie lächelnd den Briefkasten öffnete und bereits auf dem Weg nach oben zu ihrer Wohnung die erste Post neugierig zu lesen begann. Da waren Postkarten aus fernen Ländern, die sie noch nicht kannte und aus Regionen, die sie selbst schon besucht hatte. Über jeden einzelnen Urlaubsgruss freute sich Helene, sie träumte sich dann an diese Orte, erinnerte sich oder betrachtete neugierig die Motive auf den Postkarten. Heute gab es diese Grüsse zwar auch, jedoch online - einmal einen solchen Gruss geschrieben, zwei, drei Fotos dazu und mit einem Fingertipp an alle, die sich freuen, gleichzeitig versandt und irgendwann vom Empfänger gelöscht, weil der Speicher auf dessen Handy voll war. Das ist schade, dachte Helene, die diesbezüglich noch altmodisch war und es liebte, im Urlaub die passenden Karten auszusuchen und diese mit ihrem Lieblingsfüller an den jeweiligen Empfänger zu schreiben.

Auch Einladungen kamen bis vor Kurzem noch per Post. Die hingen dann an dem alten Holzbalken über dem Küchentisch, waren vom Absender individuell gestaltet und manchmal mit Blumensamen oder anderem Beiwerk verziert. Neulich hatte Helene eine Einladung, die sie online zur Eröffnung einer Fotoausstellung erhalten hatte, ausversehen gelöscht und es war mühsam und vor allem unangehm, Datum und Uhrzeit wieder herauszufinden.

Lächelnd dachte sie an ihre ersten Liebesbriefe, alle hatte Helene aufgehoben, mit einem Band umwickelt und in einen Karton gelegt. Sie erinnerte sich, wie behutsam sie jene Liebesbriefe ihrer Großeltern in den Händen gehalten hatte, als ihre Oma starb und der Haushalt aufgelöst werden musste. Auch diese Briefe lagen in Helenes Schreibtisch. Sie zeugten von der Sehnsucht und der Liebe ihrer Großeltern, bevor sie später endlich auch räumlich zueinander gefunden hatten, da ihre jeweilige Heimat weit entfernt voneinander lag.

Helene kniete sich vor den Schreibtisch, griff vorsichtig nach diesen Briefen und dem alten Fotoalbum, in welchem sie lagen. Sie blätterte darin, sah ihre Großmutter auf einem schwarz/weiß Foto als lachende junge Frau, der sie so ähnlich sah, mit ihren grünen Augen und dem langen roten Haar. Sie streichelte gedankenversunken das Foto und blätterte weiter. Das Album enthielt viele Fotos, die alle feinsäuberlich beschriftet waren. Helenes krakelige Handschrift glich so gar nicht der ihrer Großmutter.

Weit hinten im Album der Großeltern lagen die Liebesbriefe, auch diese streichelte Helene. Dann dachte die junge Frau lange nach, suchte jenes Briefpapier, welches im hinteren Fach lag und setzte sich an den Schreibtisch. Sie nahm einen Bogen des feinen Papiers und den passenden Umschlag heraus und begann nun selbst einen solchen Liebesbrief zu schreiben. Der Brief an dem Mann, der ihr Herz erobert hatte, begann mit den Worten: "Mein Liebling, ich sitze hier an meinem Schreibtisch, denke an dich und schreibe dir diese liebevollen Zeilen ...". Dann folgten vier weitere Briefe an Freundinnen, die sie lange nicht gesehen hatte und an ihre Schwester, die sie erst Weihnachten wiedersehen würde.

Als Helene am Abend, mit einem Glas Rotwein in der Hand, an ihrem Schreibtisch vorbeiging und den Stapel Briefe liegen sah, lächelte sie. Sie war eine moderne junge Frau, mit vielen Facetten - eine davon war, dass sie in gewisser Weise gern etwas altmodisch bleiben würde. 







Kommentare

  1. So schön, ich spüre die kuschelige Wärme des Zimmers, in dem der Schreibtisch steht und fühle die kühle Feuchtigkeit an der regentropfenverschleirten Scheibe... ein bisschen altmodisch zu sein und alte Werte zu bewahren ist ziemlich zeitgemäß.
    Lieber Gruß 🧡

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