Helenes Reise nach Görlitz, die Vergangenheit und Zukunft vereinte



Den Tag, an dem sich alles für sie änderte, wird Helene nie vergessen. Sie war aus dem Büro nach Hause geeilt, hatte sich in der Küche einen Espresso gemacht und ihn im Stehen getrunken, als es plötzlich klingelte und die freundliche Postbotin vor ihrer Tür stand. Sie kannten sich vom Sehen, denn schon oft hatte Helene Pakete für die Nachbarn angenommen. Manchmal winkten sie sich vor dem Haus oder in der Straße kurz zu, wenn Helene aus dem Büro kam.

Helene drehte den Brief in ihrer Hand hin und her. Neugierig öffnete sie ihn mit einem kleinen schwarzen Küchenmesser, rutsche ab und etwas Espresso lief auf den Umschlag, als die kleine weiße Tasse umkippte. Hastig wischte Helene mit dem Geschirrtuch die winzige Pfütze vom Umschlag und stellte erleichtert fest, dass die Papiere darin unversehrt geblieben waren.

Eine Kanzlei Rosenberg aus Görlitz teilte Helene mit, dass sie in einem Testament bedacht und in 14 Tagen zu einer Testamentseröffnung eingeladen sei. Helene schaute mit ihren grünen Augen abwechselnd aus dem Fenster und wieder auf den Brief in ihrer Hand. Sie überlegte hin und her, wen sie in Görlitz, der östlichsten Stadt Deutschlands, kennen würde. Jedoch fiel ihr niemand ein.

Am Abend setzte sich Helene an den Küchentisch ihrer kleinen, gemütlich eingerichteten Wohnung und blätterte in dem braunen Familienstammbuch, das sie vor langer Zeit angelegt hatte, als die Familie noch größer war. Die Großeltern, bei denen Helene aufgewachsen war, waren kurz nacheinander vor acht Jahren gestorben, die konnte Helene nicht mehr fragen. Sie waren die einzige Familie die Helene gehabt hatte; von ihren Eltern war ihr nur ein Foto geblieben.

Görlitz, Görlitz, dachte Helene. Ganz weit in einer kleinen Schublade ihres Gedächtnisses war der Name dieser Stadt schon einmal gefallen. Aber Helene fand nicht den Anfang des Knäuels, um den Gedanken aufzurollen.

In dieser Nacht träumte Helene ganz intensiv von ihrem Opa, schreckte plötzlich hoch und wachte auf. Görlitz, Opa, der Krieg - Helene erinnerte sich wieder. Ihr Opa hatte ihr nie viel vom Krieg erzählt, zu furchtbar war für ihn die Zeit. Nur, dass er eine Zeit lang in Görlitz war, das hatte er berichtet und das fiel Helene in diesem Moment ein. In einer Metallkiste kramte sie nach alten Fotos und Postkarten ihrer Großeltern und fand eine Ansichtskarte aus Görlitz, die nicht beschriftet und auf der ein Foto des Hotels "Görlitzer Hof" abgebildet war. Warum wohl lag diese unbeschriebene Ansichtskarte so viele Jahrzehnte in dieser Blechkiste? Für wen und warum war sie so bedeutend? Mit dieser Frage im Kopf und der Karte in der Hand schlief Helene wieder ein.

Am nächsten Morgen regelte sie im Büro kurzfristig ein paar Urlaubstage, rief in der Görlitzer Kanzlei Rosenberg an, bestätigte den Termin und buchte eine Fahrkarte mit der Deutschen Bahn nach Görlitz. Je näher der Termin rückte, desto gespannter wurde Helene. Wer war dieser Oskar Bergmann, um den es ging? So viel hatte ihr die Anwältin am Telefon verraten.

Zwei Wochen später stieg Helene in Görlitz aus dem Zug stieg. Sie war fasziniert von der alten Architektur des bekannten Görlitzer Bahnhofes. Mit der großen grünen Tasche in der Hand schaute sie zur Decke des Empfangsgebäudes und drehte sich dabei langsam im Kreis. Die blaue Decke mit den Ornamenten gefiel ihr sehr. 




Als sie in das Taxi vor dem Bahnhof stieg und meinte, sie möchte zum Hotel "Görlitzer Hof" gebracht werden, sah sie der Taxifahrer erstaunt an. Helene zeigte energisch das Foto der Ansichtskarte und noch immer ungläubig schauend, steuerte der Fahrer das Taxi in Richtung Innenstadt. Helene öffnete die Beifahrertür des Autos, stieg aus und konnte nicht glauben, was sie erblickte. Von dem Hotel war nicht mehr viel zu erkennen. In Görlitz gab es nur wenige unsanierte Häuser und dieses ehemalige Hotel gehörte dazu. Farblos war die Fassade, verschlossen die Eingangstür und die Leuchtwerbung hatte sicher schon seit Jahrzehnten kein Licht mehr. 



Der Taxifahrer war mit ihr ausgestiegen und bot Helene an, sie in ein kleines, nettes Hotel am Untermarkt zu bringen. Helene konnte die Ansichtskarte nicht mehr aus der Hand legen, zu sehr waren alle angeblichen und nur zusammengereimten Erinnerungen mit einem Mal zerstört. Was hatte sie erwartet?

Am Abend ging sie zum Abendessen in ein Restaurant, in dessen Innenhof sie ein mediterranes Flair erwartete. In einem mit Wasser gefüllten Sandsteinbecken plätscherte ein kleiner Springbrunnen, an der Fassade rankte Blauregen und die Tische standen unter kleinen Bäumen in deren Schatten.

Als Helene am nächsten Tag die Tür zur Anwaltskanzlei öffnete, wurde sie von einer dunkelhaarigen freundlichen Frau in einem grauen Hosenanzug begrüßt, die sich als Julia Rosenberg vorstellte und die Helene mit ihrem offenen Lächeln sofort das Gefühl von Wärme schenkte. Helene hatte bei dieser Testamentseröffnung mehrere Hinterbliebene erwartet und war nun sehr überrascht, als sie auf dem Tisch nur zwei Kaffeetassen erblickte. Julia Rosenberg war eine feinfühlige Anwältin und ließ sich Zeit, Helene, die weder Oskar Bergmann kannte noch die Zusammenhänge sofort verstand, das Testament vorzulesen.

Im Sommer 1944 hatte Helenes Opa, noch bevor er Helenes Oma kennenlernte, Zuflucht in den Armen einer jungen Krankenschwester in Görlitz gefunden, der Stadt, in der er, als an der Ostfront verwundeter Soldat, im Krankenhaus behandelt worden war. Dieser Sommer war für die junge Frau nicht ohne Folgen geblieben und durch die Wirren des Krieges verloren sich die Beiden aus den Augen. So konnte Helenes Opa nie erfahren, dass er wenige Monate später Vater eines gesunden Jungen geworden war. Die junge Frau, der irrtümlich berichtet wurde, Helenes Opa wäre im Winter 1945 gefallen, gab daher dem Werben eines Arztes nach, der sie mit dem kleinen Oskar heiraten wollte und der dem Jungen zeitlebens ein guter Vater war. Da Oskars Mutter seit der Heirat den Namen Bergmann trug, konnte sie von Helenes Opa nie ausfindig gemacht werden.

Oskar Bergmann wurde ebenfalls Arzt und übernahm später die Praxis seines vermeintlichen Vaters, der stets ein großes Vorbild für ihn war. Er selbst war nie verheiratet und blieb daher kinderlos. Als seine Mutter starb, fand er ihre Tagebücher und recherchierte instinktiv über den Verbleib seines leiblichen Vaters. Lange überlegte er, ob er zu ihm Kontakt aufnehmen sollte - zu lange. Und so erfuhr Oskar Bergmann, dass Helene, die genau wie er die große schlanke Gestalt von seinem Vater / ihrem Opa hatte, seine einzige noch lebende Verwandte war. Noch am selben Tag suchte er seine Anwältin auf, änderte sein Testament und schrieb Helene einen langen Brief, in dem er sich ihr erklärte. Und diesen Brief legte Julia Rosenberg nun in Helenes Hände.

Helene war sehr traurig, als sie den Brief zu Ende gelesen hatte. Sehr gern hätte sie Oskar Bergmann persönlich kennengelernt, doch er hatte zu lange gewartet. Warum? Der Brief war für Helene ein großes Erbe, sie spürte Achtung, Mitleid, Liebe, Verzweiflung und Trauer. Die Anwältin spürte Helenes Verzweiflung und fragte sie, in welchem Hotel sie wohnen würde. Helene strich sich eine Strähne ihres langen roten Haares aus der Stirn, nannte die Adresse am Untermarkt und zeigte ihr die Ansichtskarte.

Der Inhalt des Testaments, welches Julia Rosenberg zuvor vorgelesen hatte, war eine weitere Überraschung, wenn gleich der ideelle Wert des Briefes für Helene weitaus bedeutsamer war. Sie erbte eine große Summe Geld und die Villa, in der Hanna Bergmann, ihr Mann und Oskar Bergmann gelebt hatten. Diese Villa würde sich Helene mit der Anwältin morgen ansehen.

Julia Rosenberg konnte beim Abendessen viele von Helenes Fragen beantworten. So zum Beispiel auch, dass im Hotel "Görlitzer Hof" 1944 / 1945 Soldaten, die verletzt von der Ostfront kamen, stationär behandelt wurden, da das Görlitzer Krankenhaus keine Kapazitäten mehr hatte. Und dort waren sich Helenes Opa und seine erste Liebe begegnet. Das erklärte auch die Ansichtskarte in der Metalldose, denn mehr sichtbare Erinnerungen hatte Helenes Opa nicht an die junge Frau, deren Name Hanna war. In diesem Moment wusste Helene, dass sie das Geld zweckgebunden zur Sanierung des Görlitzer Hofes spenden würde. Genauso hatte es viele Jahre ein Unbekannter getan, der jährlich der Stadt Görlitz eine hohe Summe gespendet und somit geholfen hatte, diese wunderschöne Stadt im alten Glanz wieder auferstehen zu lassen. 

Die Villa, die sich die beiden Frauen am nächsten Tag anschauten, stand direkt am Stadtpark und war umgeben vom Grün der Natur und einem großen Spielplatz ganz in der Nähe. Auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer von Oskar Bergmann lagen die Tagebücher von Hanna Bergmann und alte Fotos, die sie mit Helenes Opa zeigten. Dies war das eigentliche Erbe für Helene.







Wie es wohl weitergeht? Wird Helene nach Görlitz ziehen? Vielleicht im Erdgeschoss der Villa ein Café oder eine Bibliothek eröffnen? Die wundervolle Stadt Görlitz hat mich auf einer Reise zu dieser Geschichte inspiriert, die von mir frei erfunden ist. Alle Fotos sind von mir gemacht und tatsächlich in Görlitz aufgenommen. 

Henriette im Sommer 2020






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