Eine humorvolle Kurzgeschichte, deren Ende jeder selbst interpretieren kann 😀



Herr und Frau Schnippsdippsler lebten in der untersten Etage, links, eines Mehrfamilienhauses mitten in Berlin. Die Häuser standen dicht nebeneinander am Rand einer Straße, auf der die Autos noch über das alte Kopfsteinpflaster fuhren.

Abends, wenn die Menschen nach der Arbeit oder aus dem Garten, vom Einkaufen oder vom Elternabend in der Schule, müde nach Hause in ihre Wohnungen kamen, parkten sie ihre Autos am rechten Straßenrand, was unter dem wachsamen Auge von Frau Schnippsdippsler geschah, die mit Lockenwicklern im Haar, sehr oft, sehr gern und sehr lange am geöffneten Fenster ihrer Küche stand.

Die Schnippsdippsler's lebten schon Jahrzehnte in diesem großen Haus und hatten viele Familien ein - und ausziehen sehen, wobei Frau Schnippsdippsler am geöffneten Fenster, Sommer wie Winter, sehr genau darauf achtete, dass die Kartons in den Umzugswagen immer ordnungsgemäß gestapelt wurden.

Genauso lange, wie sie in diesem Haus lebten, teilten Herr und Frau Schnippsdippsler Tisch und Bett, was weder ihm noch ihr Freude ins Gesicht zauberte. Elfriede Schnippsdippsler, die einst klein und zart gewesen sein muss, zumindest beweisen das diverse verblichene Fotos an der Wand im Flur, hatte im Laufe der Jahre die Figur ihres Mopses Rosi angenommen. Sie war noch immer klein - aber definitiv nicht mehr zart. Gerhard Schnippsdippsler, ein ehemaliger Lokführer, dem es, wie man bereits ahnt, nicht leicht gefallen war, von den Schienen der Welt in den Ruhestand der kleinen Wohnung mit Elfriede zu wechseln, ging daher sehr oft, sehr gern und sehr lange mit Rosi spazieren. Eine heimlich gerauchte Zigarette war dann der Höhepunkt des Tages.

"Bleib nicht so lange weg und vergiss nicht wieder das Gehackte für die Bouletten" rief Elfriede ihrem Gerhard hinterher, und "Hey, Sie da, so können Sie ihr Auto aber nicht parken!" einem jungen Mann zu, der wenige Stunden zuvor in der nahen Klinik Vater geworden war, und Frau Schnippsdippsler erst freundlich zunickte, um ihr dann die Zunge herauszustrecken. Er ärgerte sich oft über die kleine, dicke, unfreundliche Frau am offenen Fenster, der nichts zu entgehen schien. Doch heute lachte er, denn sein Herz lief über vor Glück, heute waren seine Schritte leicht.

Nicht leicht dagegen waren die Schritte von Herrn Schnippsdippsler, und je näher er der Wohnung kam, desto schwerer fielen ihm die immer langsamer werdenden Schritte. An der Haustür keuchte er genauso wie Rosi, was Frau Schnippsdippsler überhaupt nicht gefiel. "Gerhard, hast du etwa geraucht? Und wie du wieder angeschlurft kommst! Mein Gott, Gerhard, heb doch mal die Füße und keuch doch nicht so. Die arme Rosi! Hast du sie wieder so schnell gezogen? Gerhard, das Gehackte! Hast du daran gedacht oder es schon wieder beim Fleischer liegengelassen? .....". Die Tirade schien kein Ende nehmen zu wollen und so steckte sich Gerhard die heimlich gekauften Stöpsel in die Ohren, tauschte seine Straßenschuhe gegen die karierten Filzpantoffeln und schlurfte mit seiner viel zu langen Hose ins Wohnzimmer, öffnete ein Bier und suchte im TV den Sportkanal, auf dem immer irgendein Fußballspiel lief.

"Gerhard, trinkst du etwa schon wieder?" mutmaßte seine Gattin richtig, während sie in der Küche das Gehackte würzte, kleine Kugeln daraus formte,  um die Bouletten zu braten, und dabei einen Jungen auf dem Fahrrad sah, der vor ihren Fenster auf dem Fußweg fuhr. "Wenn ich dich noch einmal auf dem Fußweg fahren sehe, .....", rief sie drohend dem Jungen hinterher - und zu Gerhard rief sie fragend aus der Küche, ob er was an den Ohren hätte, sie könne das Gegröle bis in die Küche hören. "Und mach endlich die Tür zu, die ganze Wohnung riecht sonst nach Bouletten.", schallte es zu Herrn Schnippsdippsler ins heimische Fußballstadion, der aber durch die Ohrenstöpsel von all dem nichts hörte.

Vermutlich das Einzige, was Herr Schnippsdippsler an seiner Frau noch liebte, waren ihre Kochkünste. Ihre Bouletten waren großartig, die Bratensoße würzig, der Kartoffelbrei ein Gedicht und die Möhrchen nicht zu fest und nicht zu weich, in Butter geschwenkt und mit einem Hauch Petersilie bestäubt. Gerhard genoß das Essen und bekam heute sogar einen kleinen Nachschlag. Elfriede achtete sehr darauf, was und vor allem wieviel ihr Gerhard aß und trank. Sie war bereits fertig mit ihrem Mittagessen und hatte dadurch genug Zeit, ihren Mann beim Essen zu beobachten, wobei ihr mit Genugtuung das kleine Mädchen mit den Zöpfen nicht entging, das mit einem Springseil auf dem Fußweg hopste, nachdem ihr vor zwei Tagen Frau Schnippsdippsler sehr genau und sehr lange erklärt hatte, dass ihr das Springseilspringen im Innenhof viel zu laut sei. "Schmeckt es dir, Gerhard?" fragte sie und überhörte sein bejahendes Brummen, weil sie ihre nächste Tirade begann. "Gerhard, du schmatzt! Und wie du wieder dasitzt! Übrigens habe ich gesehen, dass im Bierkasten nur noch zwei Flaschen Bier stehen!", so ging es noch gefühlte 20 Minuten für Herrn Schippsdippsler weiter. Doch dann geschah etwas, was neu in dieser Wohnung, neu in der untersten Etage, neu in und vor diesem Haus war. Schlagartig wurde es ruhig!

Wenige Tage später parkte der junge Mann direkt auf dem Fußweg, um seiner Frau mit dem Baby aus dem Auto zu helfen, nachdem er die Beiden aus der Klinik geholt hatte. Er machte lächelnd dem 5jährigen Nachbarsjungen Oskar Platz, der stolz mit seinem Fahrrad auf dem für Kinder ausgeschilderten Fußweg fuhr. Dann öffnete er die Haustür und lächelte im Innenhof dem Mädchen mit den Zöpfen zu, das mit dem Springseil hüpfte und zählte " .... vier, fünf, sechs, sieben, acht....". Zum Glück hüpft sie nicht mehr am Straßenrand, dachte der Mann, das war in den letzten Tagen viel zu gefährlich. Und im Treppenhaus grüßte ihn ein ebenfalls freundlich lächelnder Herr Schnippsdippsler, der ihm und seiner Frau zur Geburt ihrer kleinen Tochter gratulierte und sagte, "den Kinderwagen können sie hier im Flur direkt neben meine Wohnungstür stellen, das stört mich nicht und so müssen Sie den Wagen nicht bis hoch in das 2. OG tragen. Einen schönen Tag noch.". Dann flog die Haustür laut ins Schloss und Herr Schnippsdippsler ging leichten Schrittes mit seinem Mops Rosi zur Nähstube, um endlich seine viel zu lange Hose kürzen zu lassen.

Das Fenster der Küche, in der untersten Etage, links, blieb bis auf wenige Ausnahmen verschlossen. Nur dann stand es offen, wenn Herr Schnippsdippsler am Fenster stand und rauchte, ganz offiziell.

Familien zogen aus und andere wieder ein, Menschen parkten auch ohne Zurechtweisung am Straßenrand und die Kinder im Haus spielten, hüpften, fuhren Fahrrad und wurden groß. Nur eines änderte sich - auf dem Türschild der Schnippsdippsler's stand "Rosi und Gerhard Schnippsdippsler" 😀.

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