Eine Geschichte über ein Buch voller Geschichten




"Es war einmal ...." so fangen die meisten Geschichten an. Diese Geschichte, in der es um ein Buch voller Geschichten geht, beginnt so jedoch nicht. Daher stell dir vor, wie in der Bibliothek einer Kleinstadt, wie es viele Kleinstädte auf der Welt gibt, das Buch, um welches es hier geht, im mittleren Regal stand, ganz links am Rand. Das Buch, das je nach Sicht des Betrachters langweilig, interessant oder speziell wirkte, war kein Handtaschenformat, nein, es war etwas größer. Auch zeigte das Buch einige Gebrauchsspuren. Ein paar Seiten waren durch die Benutzung von Kinderhänden festgeklebt, eine Seite hatte ein Eselsohr und auf einer anderen Seite, ziemlich in der Mitte, war gar ein kleiner Riss.

Die Worte in diesem Buch waren nicht in üblicher Schriftform sondern wie von Hand geschrieben hineingedruckt und die Bilder waren nicht gemalte Drucke, sondern es waren Fotografien. Diese zeigten, passend zu den Geschichten, fast ausschließlich Naturbilder, auf denen das zarte Licht eines beginnenden Morgens oder ein stimmungsvoller Sonnenuntergang zu sehen war, eine Lichtung an einem See, vom Nebel zart verhüllte Wiesen und Hecken, Blüten in zarten Farben und eine Flusslandschaft an einem Novemberabend.

Die Geschichten in diesem Buch sollten Kinder und Erwachsene ansprechen, die ein Gespür für das Leise, die Stille haben. Denn hektisch genug war das Leben ja in allen Städten ringsum, in den vielen Haushalten, Firmen, Schulen, Kindergärten - überall hatten die Menschen verlernt sich zurückzunehmen, innezuhalten und mit geschlossenen Augen die Natur wahrzunehmen, deren Düfte zu riechen und die Geräusche zuzuordnen.

Bibliotheken sind Orte, an denen es ruhiger zugeht, langsamer, bedachter und wo die verschiedensten Menschen aufeinandertreffen. Es riecht nach Papier und ab und zu kann man das leise Rascheln vernehmen, wenn die Seite in einem Buch umgeblättert wird.

In dieser Bibliothek war die Zeit noch stehengeblieben, das konnte man an dem Zettel erkennen, der im Einband ganz hinten lag und auf dem mit einem Datumsstempel ersichtlich war, wann ein Buch entliehen und wann es wieder zurückgebracht wurde.

So war es auch in unserem Buch. Es war schon öfters verliehen worden, zuletzt an einen Mann, der anfangs neugierig darin gelesen hatte und es dann immer seltener zur Hand nahm, bis er es schließlich vergaß und das Buch einstaubte. Erst ein Anruf der Bibliothekarin erinnerte den Mann daran, dass er es noch bei sich hatte und so brachte er es wieder in die Bibliothek zurück.

Das Buch war bereits vorher schon durch viele Hände gegangen. Während die Menschen in ihm blättern und die Geschichten lasen, konnte das Buch spüren, welche Gefühle die Leser dabei hatten. Es war jedes Mal eine neue Erfahrung für das Buch. Nicht jeder konnte über die gleiche Geschichte lachen oder weinen, nicht jeden sprach das gleiche Bild an - aber irgendetwas hatte das Buch an sich, denn es wurde oft ausgeliehen, was die Gebrauchsspuren eindeutig zeigten.

Doch bei der letzten Inventur betrachtete die Bibliothekarin das Buch genauer, rangierte es wegen dieser Makel aus und stellte es auf einen Tisch, der Bücher zum kostenlosen Mitnehmen anbot. Und so gelangte das Buch an eine ältere Dame, die sich mit ihrer kleinen Rente keine regelmäßigen Anschaffungen mehr leisten konnte. Sie nahm es mit sich und las jeden Tag eine Geschichte in diesem Buch.

Es waren Liebesgeschichten, Geschichten über vergangene Zeiten, lustige Episoden, nachdenkliche Geschichten, Kindergeschichten, spannende Geschichten - das Buch hatte nie einer Rubrik zugeordnet werden können. Es war eine Mischung über das Leben der Menschen, ihr Einklang mit der Natur und über die Liebe. Die ältere Dame hatte bereits sehr viele Jahre gelebt, ihr Leben war auch wie ein Buch mit Geschichten. Inspiriert von unserem Buch, setzte sie sich eines Abends in ihrem Garten auf eine Bank, wo sie täglich gesessen und in unserem Buch gelesen hatte, und fing an, ihre ganz persönliche Geschichte aufzuschreiben.

Manchmal lächelte sie dabei, manchmal seufzte sie und manchmal war sie beim Schreiben sehr ernst. Als sie ihr Buch fertig geschrieben hatte, blätterte sie auf die erste Seite zurück, zog ihre Stirn kraus, setzte den Stift an und strich den ersten Satz energisch durch. Hatte sie doch tatsächlich begonnen mit "Es war einmal.....". Und damit sollte keine Rückschau auf das eigene Leben beginnen, denn wir waren nicht, sondern wir sind, wie wir sind. 



PS: Für meine Mama ❤

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