Henriettes Gartenfreude


An ihren älteren und rüstigen Nachbarn, der viele Jahre neben Henriettes Garten seine herrlich duftenden Rosen verschnitten und stets ein freundliches Wort für sie gehabt hatte, dachte Henriette an diesem warmen Juniabend zum wiederholten Mal. Er hatte ihr gezeigt, wo die welken Rhododendronblüten abgeknipst werden müssen, damit die Büsche im nächsten Frühjahr wieder in ihren herrlichen Farben blühen würden.

Henriette dachte in jedem Jahr an ihn, wenn sie an den Abenden Mitte Juni durch den Garten ging und die ersten verwelkten Blüten an den Rhododendronbüschen abdrehte. Es gab verschiedenfarbige Büsche im Garten, mit lavendelfarbenen, zartrosafarbenen und bernsteinfarbenen Blüten, die die vielen Hummeln und Bienen anlockten. Henriette entfernte nie alle Blüten mit einem Mal, sondern jeden Abend nur eine Handvoll, wenn sie die Stille des Gartens suchte, ihren Gedanken freien Lauf ließ und sich dabei entspannte.


Die letzten Wochen waren sehr stressig gewesen und daher war sie öfter als sonst an den Abenden im Garten unterwegs, manchmal barfuß, um bewusst den weichen Rasen unter ihren Füßen zu spüren oder die Nässe, wenn der Rasensprenger in seinem monotonen Zischen den Garten erfrischt hatte.

An diesem Abend war sie allein und seufzte, als sie von weitem die dunkle Wolke aufziehen sah. Würde es doch noch Regen geben? Die Erde war trocken und die Luft schwül. Henriettes Blick fiel von der Wolke auf die satten, grünen Blätter des Nussbaums. Dieser stand schon hier, als Henriette den Garten hinter dem Haus vor fast zwanzig Jahren zum ersten Mal betreten hatte.


Die Form seiner Krone war damals noch etwas anders, eher der Ostseite des Gartens zugewandt. Etwa vier Meter neben dem Nussbaum stand eine Kastanie, deren Zweige die Zweige des Nussbaums berührten. Die Stämme beider Bäume dienten im Sommer als Halt für die rot-blau gestreifte weiche Hängematte. Bei einem heftigen Sturm vor sechs Jahren jedoch war die Kastanie umgekippt und diente seit dem an kalten Winterabenden als Feuerholz im Kamin. Von diesem Tag an wuchsen die Zweige des Nussbaums nun auch zur anderen Seite. Dort hing ein selbstgebautes Vogelhäuschen, in dem jedes Jahr Meisenpaare brüteten.


Manchmal ertönte ein schnarrendes Geräusch, dann kletterte und hangelte sich das zahme Eichhörnchen an den Ästen durch die Krone des Nussbaums und sprang zum nahen Dach des Fahrradschuppens, in dem Säcke voller Walnüsse vom letzten Herbst zum Trocknen hingen. Henriette schmunzelte, denn zum Ende des Frühjahrs hin, wurden die Säcke immer leerer und das Eichhörnchen immer dicker.


Der Nussbaum stand im Garten wie ein Fels in der Brandung. Er trotzte Schnee und Regen, Hitze und Trockenheit, lauschte den Gesprächen, die unter ihm geführt wurden, verlor im Herbst seine Blätter und Nüsse und erwachte in jedem Frühjahr zu neuem Leben.


Vor langer Zeit hatten Henriettes Kinder im Kinderwagen, geschützt unter dem Blätterdach des Nussbaums, geschlafen, schaukelten Jahre später auf der roten Schaukel hin und her, die an einem dicken Ast befestigt war und sammelten in jedem Herbst eifrig Nüsse, um später kleine Nussmännchen daraus zu basteln. Henriette liebte im Herbst den typischen Geruch des Laubes.


Manchmal standen auch kleine Zelte unter dem Nussbaum, wenn Kindergeburtstage gefeiert wurden. Auch daran dachte Henriette und  seufzte, und an die vielen Feste, die unter dem Nussbaum gefeiert wurden, als die Familie noch grösser war und die Omama im Schatten des Nussbaums den Urenkeln beim Spielen zugesehen hatte.

Die dicke Wolke war lautlos ganz nah gekommen und entlud sich mit einem kurzen aber kräftigen Gewitter über dem Dorf, am Rand der Stadt. Die Amseln hüpften danach über den Rasen und suchten hungrig nach Würmern. Da sich die Luft nicht abgekühlt und die Abendsonne den Garten in ein weiches Licht getaucht hatte, welches Henriette so liebte, blieb sie im Garten und setzte sich in den Gartenpavillion. Sie sah, wie sich zwischen den Blättern des Nussbaums das Licht der warmen Abendsonne brach und die Sonnenstrahlen wie kleine helle Bahnen auf den Rasen trafen.

Vom weichen Licht fasziniert, begann Henriette aus einer Rolle mit naturbelassener Schnur und kleinen, sauberen Marmeladengläsern dezente Windlichter zu basteln, füllte diese dann mit Teelichtern und hängte sie zwischen die Blätter an die Äste des Nussbaums. Nachdem sie die Kerzen angezündet hatte, lehnte sie sich an die raue Rinde des Nussbaumstamms und genoss die vielen kleinen Lichter, die sanft im Wind schaukelten.


Wieder einmal hatte der Nussbaum Freude gespendet. Henriette schaute auf die rote Schaukel und beschloss, diese durch einen Hängesessel zu ersetzen. Demnächst würde Henriette selbst, die kleinen Windlichter im Blick, im Schatten des Nussbaums leicht hin und her schaukeln 🌿.






PS: Diese kleine Geschichte enthält ganz viel von mir.

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