Die Geschichte der Weihnachtsbaumkugel




Helene betrachtete den sich leicht nach vorn neigenden Tannenbaum, der vor ihr stand und die ganze Ecke vor dem Fenster des Wohnzimmers einnahm. Sie überlegte, wie lange er wohl so saftig, grün und schön dort stehen würde. Der Sommer war heiß und trocken gewesen, wie auch der Sommer zuvor. Das Grün am Adventsgesteck hatte Helene in den vier Wochen zuvor mehrmals erneuern müssen, die Nadeln waren immer nach wenigen Tagen abgefallen. 

Helene schloss die Augen und atmete durch die Nase tief ein. Dieser Duft nach Tanne und nach Wald, er war einzigartig und in Kürze würde das ganze Wohnzimmer diesen herrlichen Geruch annehmen. Sie bückte sich nach einem Karton, der vor ihr auf einem kleinen Hocker stand. Sorgfältig lagen darin, einzeln in Seidenpapier verpackt, die roten und silbernen Weihnachtsbaumkugeln. Neben dem Hocker, auf den alten Holzdielen, stand ein weiterer Karton. Dieser enthielt viele kleine Anhänger aus Holz und die zarten Strohsterne, die Helenes Zwillinge, Ada und Albert, so liebten.

Helene strich sich eine Strähne ihres langen roten Haares aus der Stirn und hängte liebevoll eine Kugel nach der anderen an den Tannenbaum. Die Kugel jedoch, nach der sie jetzt griff, war ihre Lieblingskugel. Vorsichtig wickelte sie die Kugel aus dem weißen Seidenpapier und betrachtete diese lächelnd. Im Licht der Deckenlampe glänzten die schmalen goldenen Streifen auf der zarten Kugel. Helene liebte diese Weihnachtsbaumkugel. Schon als Kind war sie vom Zauber dieser Weihnachtsbaumkugel gefangen - besonders deren Geschichte, die die Großmutter jedes Jahr am Weihnachtsabend erzählte, hatte Helene schon immer fasziniert.

Diese Weihnachtsbaumkugel hing bereits am Weihnachtsbaum der Urgroßeltern, die damals in der Nähe von Königsberg lebten und die Helene nie kennengelernt hatte. Im Winter 1945, als die Ostfront immer näher rückte, war die Familie aus Ostpreußen nach Mitteldeutschland geflohen und ein paar kleine Weihnachtsbaumkugeln hatten diese Flucht unversehrt überstanden. Im Laufe der Jahre war von all den Kugeln nur diese eine Kugel mit den zarten goldenen Streifen übriggeblieben.

Jahre später hatte die Großmutter ihrer Tochter die kleine Kugel weitergereicht, als Helenes Mutter es war, die den Weihnachtsbaum in ihrem Haus schmückte. Dort traf sich dann die ganze Familie zur Bescherung und zum Essen. Es wurden Geschichten vorgelesen, es wurde gesungen und während der Opa in der Küche die Weihnachtsgans zerteilte, erzählte die Großmutter im Wohnzimmer die Geschichte der kleinen Weihnachtsbaumkugel.

Seit ein paar Jahren nun traf sich die Familie am Weihnachtsabend bei Helene. Die Großeltern waren nicht mehr dabei. Einzig die Weihnachtsbaumkugel war ihr geblieben. Helene nahm einen Bilderrahmen vom Regal und berührte sanft das Glas über dem Foto. Es zeigte Helene und ihre Schwester Valerie als Kinder, Hand in Hand, mit der ganzen Familie vor einem liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum. An diesem Baum funkelte zwischen vielen anderen Kugeln die kleine Weihnachtsbaumkugel, die Helene jetzt in der Hand hielt.

In einigen Jahren würde Helene diese Kugel an Ada weiterreichen und dann würde sie es sein, die die Geschichte der Weihnachtsbaumkugel am Weihnachtsabend erzählt. Helene hängte vorsichtig die Kugel an einen Zweig und lächelte erneut.

Später an diesem Abend, im Schein der Kerzen, spiegelte sich die kleine Weihnachtsbaumkugel in Helenes Augen. Aus der Küche drang der Duft der Weihnachtsgans, es wurden Weihnachtslieder gesungen und nach dem Essen spielten die Kinder mit ihren Weihnachtsgeschenken.

Helene lächelte dankbar und setzte sich zu ihrer Schwester, während die Mama der beiden Frauen das alte Familienfoto in die Hände nahm und von der kleinen Weihnachtsbaumkugel erzählte, so wie es früher die Großmutter getan hatte.


Ende



Diese fiktive weihnachtliche Geschichte könnte überall auf der Welt spielen - in Familien, die das Glück haben, dort zu leben, wo sie die Weihnachtstage friedlich und in Harmonie begehen können. Vergessen wir all jene Menschen nicht, denen das Leben nicht so würdig begegnet, eben jene Kinder und Erwachsene, die in Armut oder in Angst leben müssen. Und denken wir selbst an Familien in unserer Nähe, die durch Krankheit oder Verlust keine Freude verspüren, diese Tage mit offenen Herzen zu erleben.

Ich wünsche euch allen friedliche & harmonische Weihnachtsfeiertage und für das Jahr 2020 Gesundheit, Zufriedenheit, Harmonie und die Fähigkeit zu Träumen - denn Träume sind Nahrung für die Seele und mit etwas Glück erfüllt sich ja der eine oder andere ein Traum ....

Von Herzen eure Henriette

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