Das alte, kleine Hotel, ein Herbststurm und ein Kapitän a.D.




Der Sturm vom Vorabend hatte sich etwas gelegt, die Erde war nass und die letzten wenigen Blätter hingen tropfnass an den Bäumen. Nach einigen Metern gab der Wald den Blick auf das Ufer des Meeres frei und ich konnte sehen, wie die Wellen kräftig gegen die Felsen an das Ufer schlugen und die weißen Schaumkronen ungestüm auf dem dunkelgrau wirkenden Meer schaukelten. Der Strand war schmaler als an den Tagen zuvor, als die Sonne das glatte Meer gestreichelt hatte, welches in weiter Ferne den blauen Himmel fast berührte. Es war, als hätte der Sturm den goldenen Herbst mit sich gewirbelt und Platz für das nasse Novembergrau geschaffen.

Noch gestern hatte ich auf dem Inselplan nach alten, leerstehenden Gebäuden gesucht aber nichts mehr entdecken können, was ich mir noch nicht angeschaut hatte. Ich liebe es durch einsame, unbewohnte Häuser zu stöbern, die vergessen und sich selbst überlassen sind - und für die Zeit meines Besuches kurz zum Leben erwachen, wenn sie mir ihre Geschichten erzählen. Oft hatte sich die Natur schon zurückgeholt, was einst ihr gehörte und nicht selten wuchsen bereits kleine Bäume aus den Dachrinnen heraus. Und bei solchen Anblicken fröne ich meiner zweiten Leidenschaft und halte diese, mich fesselnden Momente, mit der Kamera fest.

Der Besitzer des Hotels, in welchem ich für ein paar Tage wohnte und mit dem ich ins Gespräch gekommen war, hatte mir von dem Haus erzählt, das ich auf keiner Karte finden konnte und heute aufsuchte. Einzig hatte ich in Erfahrung bringen können, dass das Haus vor vielen Jahren ebenfalls als Hotel fungierte und eine gute Zeit hinter sich hatte. Der Wegbeschreibung war ich richtig gefolgt, doch konnte ich außer dem felsigen Ufer das alte Hotel nicht finden.

Erst als mein Blick nach oben wanderte, hoch zum Felsen, da sah ich es. Ich staunte nicht schlecht, aus der Ferne wirkte das Haus gar nicht verlassen. Und so wanderte ich den Weg zwischen dem Waldrand und den Felsen der Küste hinauf und erhaschte einen wunderbaren Ausblick über die Bucht. Je näher ich dem alten Hotel kam, desto neugieriger wurde ich.



Neben dem Hotel stand ein Baum, dem der Sturm bereits die Blätter entrissen hatte und der im fehlenden Licht der Sonne etwas bizarr, fast wie aus einem alten schwarz/weiß Film entsprungen, wirkte. Eine Kinderschaukel, die an einem dicken Ast befestigt war, quietschte während sie leicht im Wind vor und zurück schaukelte. Die Holzfassade des Hauses war einst weiß gestrichen und die geschnitzten Erker und Balkone strahlten im selben Weiß, denn das feuchte Klima und der stetige Wind hielten die Fassade sauber. Zwischen den Steinen wuchs Unkraut und vom eigentlichen Garten, in dem früher die Hotelgäste saßen, konnte ich nichts mehr erkennen. Die Büsche waren ineinander gewachsen, sicher hatte der Wind über die Jahre hinweg verschiedene Samen mit sich gebracht, die hier Boden zum Wachsen gefunden hatten. Hinter dem Hotel, etwas windgeschützt, nahm ich schwach den Duft von Rosen wahr, die dort noch zwischen wilden Pflanzen blühten.

Langsam drehte ich eine Runde um das alte Hotel. Das Glas in den Fenstern war unversehrt, nicht zersprungen und die Fensterläden teils nur zur Hälfte angelehnt. Die vordere Eingangstür war, wie zu erwarten, verschlossen. Mein Blick erspähte die Fenster, die ich jedoch erfolglos zu öffnen versuchte. Auch die Hintertür ließ sich nicht öffnen. Ich ging wieder zur vorderen Eingangstür und überlegte, welches Versteck ich für einen Zweitschlüssel gewählt hätte, wenn ich hier leben würde. Kurze Zeit später lächelte ich, als ich an einem Holzbrett vorbeikam, an dem fein säuberlich der Größe nach sortiert, etwa zwanzig rostige Schlüssel nebeneinander hingen. Hier hatte wohl jemand einen Platz für seine Sammelleidenschaft gefunden. Ich schaute mir alle Schlüssel genau an und griff spontan nach dem richtigen. Sein Bart hing im Gegensatz zu den restlichen Schlüsseln in die andere Richtung. Das Offensichtliche scheint für manche Menschen zu offensichtlich zu sein. Dank meiner Schwäche für Kriminalromane entging mir dieses Offensichtliche jedoch nicht.

Lautlos ließ sich die Eingangstür öffnen und im Licht der offenen Tür erkannte ich das Foyer und die ehemalige Rezeption. Meine Augen gewöhnten sich rasch an die wenig hellen Räume. An der Wand der Rezeption befand sich das Schlüsselfach und in jedem dieser nummerierten Fächer lag zwischen Spinnennetzen und Staubflocken noch der Zimmerschlüssel. Darunter entdeckte ich ein dickes, verstaubtes Gästebuch, in dem die Namen der Hotelgäste, ihre Adressen und Berufe sowie das An- und Abreisedatum notiert waren. In Zimmer 10 hatte dauerhaft ein Kapitän a.D gelebt.

Ich drehte mich um und blickte auf ein wunderschönes Wandgemälde. Es zeigte eine Harfe spielende, fast nackte Meerjungfrau, die in ihr langes Haar gehüllt war.



Fasziniert stand ich eine Weile vor dem Wandgemälde. Eine breite Treppe führte in die obere Etage, in der ich die Hotelzimmer vermutete. Vor Zimmer 10 blieb ich stehen, steckte den Zimmerschlüssel in das Schloss, drehte ihn um und drückte langsam die Türklinke hinunter.


Die Möbel waren mit weißen Tüchern abgedeckt, es roch muffig nach abgestandener Luft und nach Staub. Einem Instinkt folgend, zog ich vorsichtig das obere Fach des Nachttisches auf und entdeckte ein Tagebuch mit beschriebenen aber bereits vergilbten Seiten. Ich setzte mich auf das Bett, blätterte in den Seiten und vergaß die Zeit. Der Kapitän hatte in diesem Tagebuch die letzten Jahre seines Lebens festgehalten. Ehrfürchtig blätterte ich Seite um Seite weiter. Ein Blick auf die Uhr ließ mich innehalten, es war spät geworden. Ich zögerte, ob ich das Tagebuch wieder zurücklegen oder mitnehmen sollte, entschied mich für letzteres und würde es an meinem letzten Urlaubstag  in das Zimmer 10 zurückbringen.

Bewusst langsam ging ich die breite Treppe hinunter, blickte nochmals auf das wunderschöne Wandgemälde und legte  den Zimmerschlüssel zurück in Fach 10.  Anschließend schloss ich von außen sorgfältig die Eingangstür zu, hängte den Eingangsschlüssel mit dem Bart wieder in falscher Richtung an das Brett mit den vielen anderen Schlüsseln und machte mich auf den Weg zurück in mein Hotel der Gegenwart.

Inzwischen lag die beginnende Dämmerung über der Bucht und ich war froh, dass der Leuchtturm mir im Sekundentakt mit seinem Licht den Weg zeigte, welches mich bis zur Straße begleitete. Während ich auf dem Parkplatz in mein Auto stieg, presste ich das Tagebuch fest an mich. Es war für mich ein wertvoller Schatz und ich freute mich darauf, darin in aller Ruhe weiterzulesen.






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