Das alte, kleine Hotel, das Meer und ein Kapitän a.D.




Teil 2

Im Glas des Fensters spiegelte sich das Licht der kleinen Messinglampe, die auf dem Fensterbrett stand. Ich hatte es mir mit einer Tasse Tee in dem antikbraunen Ledersessel gemütlich gemacht. Nur ab und zu kam der ältere Herr von der Rezeption vorbei, nickte und fragte, ob ich noch einen Wunsch hätte. Die anderen Hotelgäste waren an diesem verregneten Nachmittag nicht zu sehen und so hatte ich die Sitzecke im Erker des Foyers für mich. Heute wollte es gar nicht richtig hell werden.

Auf meinem Schoß lag das Tagebuch des Kapitäns a.D., welches ich gestern bei meinem Ausflug zu dem alten, leerstehenden Hotel in Zimmer 10 gefunden hatte. Das Tagebuch war in Leder eingebunden und hatte dessen typischen Duft angenommen. Der letzte Eintrag war vom 31.12.1992. Der Kapitän, so hatte ich errechnet, muss zu dieser Zeit 73 Jahre alt gewesen sein. Er schrieb darin, dass das Hotel am darauffolgenden Tag schließen und er in eine kleine Wohnung ziehen würde, die näher am Zentrum aber unweit vom Ufer und mit Blick auf das Meer lag. Der Kapitän beschrieb, dass er keine Lust auf eine gesellige Silvesterfeier gehabt hätte. Ich sah ihn bildlich vor mir, wie er um Mitternacht an seinem offenen Hotelfenster stand und über die Bucht schaute. Vor ihm das Meer, welches viele Jahre seine Heimat war und rechts vom Hotel, wenige Kilometer entfernt, die kleine Küstenstadt, von der aus die Silvesterraketen den Himmel über ihm erhellten. Jede Rakete wurde von Wünschen begleitet, die die Menschen am Ufer und in den umliegenden Häusern und Hotels mit in den Himmel schickten. Kapitän Thies Jansen hatte keine Wünsche, so stand es auf der letzten beschriebenen Seite, im letzten Absatz. Die wenigen folgenden Seiten seines Tagebuchs waren weiß und unbeschrieben.

Weil ich von Natur aus neugierig bin, habe ich die Angewohnheit, immer zuerst die letzte Seite eines Buches zu lesen, bevor ich es beginne. Und da ich nun wusste, dass Thies Jansen den letzten Tag des Jahres 1992 allein und von vielen Gedanken umgeben verbracht hat, wollte ich unbedingt wissen, was ihn zu diesem einsamen, nachdenklichen Mann hatte werden lassen.

Und während ich nun die erste Seite des Tagebuchs aufschlug und an meinem Tee nippte, schaute ich wieder zum Fenster hinaus. Die Regentropfen hatten lange Rinnsale an der Scheibe entstehen lassen. Genauso begannen die Aufzeichnungen von Thies Jansen. An einem regnerischen Herbsttag hatte er sich entschlossen die leeren Seiten seines Tagebuches zu füllen.

Thies Jansens Kindheit war bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges behütet. Mit seinem älteren Bruder war er ein Herz und eine Seele. Ständig hatten sie Streiche gespielt, einer von ihnen hatte immer ein Pflaster oder Verband an Arm oder Bein. Sie liebten das Meer, tollten in den Wellen und hatten bereits in jungen Jahren das Schwimmen gelernt. Die Eltern betrieben eine kleine Gastwirtschaft und so hatten die Jungen ausreichend Zeit tagsüber am Strand herumzutollen. Doch mit dem Krieg änderte sich alles. Der Vater und Thies' älterer Bruder wurden Soldaten, die Oma kam und wohnte von nun an mit im Haus, um ihrer Tochter zu helfen - und Thies wartete Tag um Tag. Er wartete auf Nachrichten seines Bruders und Vaters und darauf, dass der Krieg bald zu Ende ginge und die unbeschwerte Kindheit zurückkehren würde. Doch es kam ganz anders. Der Bruder, der aus Liebe zum Meer zur Kriegsmarine gegangen war, kehrte nie wieder zurück und der Vater, einst ein lebenslustiger Mann, kam nach Jahren der Kriegsgefangenschaft still und in sich gekehrt zurück zu Thies und den beiden Frauen, die sich allein um die Gastwirtschaft gekümmert hatten. Thies wollte nicht in die Fußstapfen seiner Eltern treten und nicht in der Gastwirtschaft arbeiten. Es zog ihn auf das Meer hinaus. Und so wurde Thies Jansen erst Matrose, dann zweiter Offizier und später Kapitän. Er liebte es auf See zu sein, egal ob sie ruhig war oder der Wind die Wellen aufpeitschte. Thies blieb bis zu seinem letzten Tag auf See Kapitän.

Ich überlegte kurz. Als Thies Jansen für immer an Land ging, wie mag er sich gefühlt haben? Zwei völlig verschiedene Elemente unter den Füßen - Jahrzehnte lang hat ihn das Meer in den Schlaf geschaukelt und dann plötzlich fester Boden und Stillstand? Nein, so konnte doch die Geschichte um Thies nicht zu Ende gehen. Es gab noch ein paar Seiten in seinem Tagebuch. Und neugierig begann ich weiterzulesen.

Thies Jansen, der Kapitän a.D., kam zurück an den Ort seiner Kindheit. Seine Eltern hatten aus der einfachen Gastwirtschaft ein kleines Hotel mit 10 Zimmern gemacht. Sie waren inzwischen alt und konnten das Hotel nicht mehr allein führen. Und so kam es, dass unser Kapitän in Zimmer 10 zog und für die nächsten Jahre die Leitung des Hotels übernahm.

Wieder schaute ich zum Fenster auf das regennasse Glas. Jetzt verstand ich. Alle Puzzleteile, die ich gestern an und in dem alten, kleinen Hotel gesehen hatte, fügten sich nun zu einem Bild. Die Meerjungfrau mit der Harfe auf dem Wandbild, die vielen Schlüssel und auch andere kleine Details passten nun zusammen. Vorsichtig strich ich mit meinen Fingern über die trockene Tinte der letzten Seite und klappte das Tagebuch nachdenklich zu. Vom Kamin her erreichte mich eine wohlige Wärme, die ich bisher nicht bemerkt hatte und auch nicht, wie schnell die Stunden vergangen waren.

Der ältere Herr von der Rezeption schaute zu mir, diesmal nickte ich ihm zu. Während er mir einen weiteren Tee servierte, kamen wir ins Gespräch. Ich fragte ihn, ob er Thies Jansen kannte und ob er mir etwas zu dem alten, kleinen Hotel sagen könne. Seine Antworten deckelten meine Erkenntnisse aus dem Tagebuch. Und auch über das Ende des Hotels und den Verbleib des Kapitäns a. A. erhielt ich eine Antwort. Thies Jansen führte das Hotel bis zum 31.12.1992. In der kleinen Wohnung lebte er bis zu seinem Tod. Warum das kleine, alte Hotel nicht verkauft wurde, konnte er mir nicht sagen.

Am nächsten Tag brachte ich das Tagebuch zum Heimatmuseum, wo es in liebevolle Hände überging. Bevor ich meinen Urlaub beendete, fuhr ich zum Friedhof und fand das Grab der Familie Jansen. Dort hinterließ ich einen kleinen Blumenstrauß und einen stillen Gruß.



Ende


PS: Danke für die vielen Fragen, was wohl in dem fiktiven Tagebuch stand. Das hat mich inspiriert diesen 2.Teil zu schreiben.

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