Die Geschichte vom kleinen Feuerstein


Wer sich schon einmal im Norden der Insel Rügen am Kap Arkona die Leuchttürme angeschaut und das Licht der Morgensonne bewundert hat, der kennt dort auch die Steilküste. Der Blick vom Rand der Steilküste über die Ostsee ist in den Morgen- und Abendstunden besonders atemberaubend.

Eine lange Naturtreppe führt hinab zu den vielen großen und kleinen Steinen am Ufer. Dazwischen liegen Feuersteine und Hühnergötter. Manchmal finden Sammler verschieden große Donnerkeile und selten, besonders nach einem Sturm, auch kleine Bernsteine.



Von dort stammt er, der kleine Held dieser Geschichte. Er lag dort schon viele hunderte Jahre, bevor ihn jemand aufhob, mit sich nahm und später, in einem nahen Ostseebad, auf den Rand des hölzernen Pflanzkübels eines Cafés legte und vergaß. Und genau dort fand ich ihn. Er lag auf dem Holzrand unter den Blättern eines Kirschlorbeers.




Ich war bereits ein paar Schritte weitergegangen, da hielt ich plötzlich inne und drehte mich um. Es war schon dunkel, doch im Licht der Straßenlaterne hob sich der kleine Feuerstein hell vom Holz ab. Ich nahm ihn in die Hand, betrachtete ihn und fühlte seine Energie. Gedankenversunken ging ich weiter. Wie kam er hierher? Im Hotelzimmer legte ich ihn auf meinen  Nachttisch. Als ich in der folgenden Nacht erwachte, sah ich ihn dort im hellen Mondlicht liegen. Wieder nahm ich ihn in die Hand, betrachte und befühlte ihn. Ich stellte mir vor, wie er vom Ufer der Steilküste in das Cafe gelangt war. Und da flüsterte er mir seine Geschichte:

Wenn morgens die ersten Sonnenstrahlen auf den Wellen tanzten und der kleine Feuerstein erwachte, war die Steilküste in ein ganz besonderes Licht getaucht. Der Morgen war für ihn die schönste Zeit. Dann waren noch keine Menschen am Ufer unterwegs und auch noch keine Kutter auf der Ostsee zu hören. Nur das Geschrei der Möwen und das Rauschen der Wellen durchdrang dann die Stille. Und je nach Jahreszeit war das Rauschen der Wellen ruhiger oder besonders kräftig. Im Herbst trieben Stürme die Wellen an das steinige Ufer und im Winter, wenn Eis und Schnee das Ufer zufrieren ließen und bedeckten, dann war es ganz still um den kleinen Feuerstein herum. Im Frühjahr jedoch, wenn das Leben neu zu erwachen schien, lachten die ersten Kinder mit ihren Müttern, die aus der nahen Mutter-Kind-Klinik kamen und im Sommer, wenn der warme Wind den Feuerstein streichelte, dann kamen die Kinder wieder und brachten die ganze Familie mit.

So verging Jahr um Jahr. Der Feuerstein erlebte strenge Winter, so auch den Winter im Jahr 1978, als die Insel Rügen im Schnee versank und von der Außenwelt abgeschnitten war. Er erlebte schwere Stürme, andere Naturgewalten und in den Kriegen die Kanonen, Bomben und Explosionen, die die Insel erzittern ließen. Er hörte das laute und leise Bellen von großen und kleinen Hunden, die nach den Stöckchen suchten, welche für sie geworfen wurden. Er hörte Verrat und die gesenkten Stimmen in einer Zeit, als man lieber ganz leise aussprach, was man dachte. Aber er vernahm auch das zärtliche Flüstern der Liebespaare, die sich im Sonnenuntergang am Ufer zwischen den Steinen küssten. Ebenso spürte er die geweinten und die ungeweinten Tränen der Menschen, die nicht so glücklich waren. Besonders jedoch mochte er das Lachen der Kinder, die zwischen all den Steinen um ihn herum nach Hühnergöttern suchten, den einen oder anderen fanden und die sich freuten, wenn es spritzte, nachdem sie einen größeren Stein ins Wasser geworfen hatten.

Oft wurde auch unser kleiner Feuerstein in die Hand genommen, hochgehoben, betrachtet und wieder abgelegt. Es waren große, kleine, zarte oder derbe Hände, die ihn hielten. Der kleine Feuerstein wollte auch gern ein Loch in seiner Mitte haben, um als Hühnergott an einem Seil zu hängen und somit einen Garten oder ein Haus zu schmücken. Aber er hatte kein Loch in seiner Mitte. Er war in seinen Augen nichts Besonderes und das machte ihn traurig. Die anderen Steine um ihn herum trösteten ihn, auch sie hatten kein Loch. Unser kleiner Feuerstein war neugierig und wollte sehen und erleben, was es außer dem Ufer der Steilküste noch zu entdecken gab.

Und so kam auch sein großer Tag. Ein Angler, der seiner Tochter versprochen hatte, ihr etwas von der Natur der Ostsee mitzubringen, machte auf dem Weg am Ufer der Steilküste eine Pause und freute sich auf die bevorstehende Kutterfahrt, als er den kleinen Feuerstein ergriff, ihn betrachtete und einsteckte. An diesem Tag war mächtig Wellengang und dem kleinen Stein wurde übel. Auf und ab ging es mit dem Kutter über die Wellen und die Kiste mit dem Angelzubehör, in der er lag, rutschte ebenfalls hin und her. Als die See im Hafen ruhiger wurde, beruhigte sich auch unser Stein. In dem Moment, als die Angelkiste geöffnet wurde, sah der kleine Feuerstein, dass es nicht die Hände des Anglers waren, die ihn hinausnahmen sondern die Hände eines anderen Mannes. Auf dem Kutter waren die Angelkisten irrtümlich vertauscht worden. Dieser Mann legte den Stein auf den Tisch in der Hafenkneipe und betrachtete ihn, während er genussvoll in sein Fischbrötchen biss. Dort ließ er ihn später achtlos liegen und ging mit der vertauschten Angelkiste davon. Der Stein spürte einige fremde Gerüche, lauschte den Gesprächen und wartete neugierig, wie es weitergehen würde. Etwas später räumte die Kellnerin den Tisch ab und so gelangte unser Stein auf die oberste Stufe am Eingang der Hafenkneipe. Neben ihm lag eine dicke getigerte Katze in der warmen Abendsonne und begann zu schnurren, das gefiel dem Stein und nach all der Aufregung an diesem Tag, wurde er müde und schlief ein.

Der kleine Junge, der den Stein am nächsten Morgen dort fand, war mit seiner Mama auf dem Weg in den Kindergarten. Er freute sich über den Stein, drehte ihn, leckte an ihm und trug ihn bis zum Auto mit sich. Seine Freunde im Kindergarten würden staunen! Doch der Junge merkte nicht, dass er den Stein neben seine Hosentasche gesteckt hatte und so kullerte der Stein im Auto hin und her. Beim Aussteigen fand ihn die Mama des kleinen Jungen und legte ihn achtlos auf eine Bank vor dem Kindergarten.

Ein Kurgast, der sich hier erholte, setzte sich am Nachmittag auf genau diese Bank, nahm den kleinen Feuerstein in die Hand und lächelte. Er behielt den Stein bei sich und legte ihn auf das Fensterbrett seines Zimmers. Am Tag der Abreise vergaß der Mann aber unseren kleinen Freund einzupacken; wollte er doch den Stein als Erinnerung mit nach Hause nehmen.

Jahre verstrichen und unser kleiner Feuerstein ging durch viele Hände, bis er sich eines Tages als Dekoration in der Mitte eines Tisches in einem Café wiederfand. Ein Gast, der genug von Steinen, Muscheln und dem feinen Sand des Ostseestrandes hatte, legte den Stein auf den Rand des Pflanzkübels, wo ich ihn später am Abend fand. All das erzählte mir der kleine Feuerstein, der sicher in meiner warmen Hand lag. Er hatte sich auf die Welt fern von hier gefreut, war allerdings nur bis in dieses hübsche Seebad gekommen. Deshalb begann ich zu erzählen - von mir und von den Orten und Plätzen, die ich bereits gesehen und erlebt hatte.

Und so kam es, dass der kleine Feuerstein mein Talisman wurde und mich von dem Tag an auf allen Reisen begleitete. Für mich war der kleine Feuerstein perfekt, auch ohne ein Loch in der Mitte - oder vielleicht grad deshalb.






Kommentare