Ein Märchen für Erwachsene






Es war einmal ein altes Haus mit einem wunderschönen alten Garten. Die Blumen in diesem Garten blühten in allen Farben. Zart, feingliedrig und leicht. Es waren alte Sorten, die jenen betörenden Duft hatten, den wir alle noch aus unserer Kindheit kennen.





In dem alten Haus lebte ein Mädchen mit seinen Eltern. Das Mädchen wuchs wohlbehütet in dem kleinen Dorf auf. Am liebsten war sie in diesem duftenden Garten. Wenn abends die Sonne unterging, waren die Farben der Blumen in ein besonderes Licht getaucht. Aber auch am Morgen war das Mädchen gern dort. Dann glitzerte der Tau auf den grünen Blättern der Blumen und Büsche. Im Sommer, wenn die Tage heiß waren und auch die Nächte sich kaum abkühlten, saß das Mädchen mit einem Buch auf einer Decke unter dem alten Nussbaum.





An einem Sonntagvormittag wurde das kleine Mädchen von den Eltern in die Küche gerufen. Die Mama stand mit verweinten Augen am Tisch und der Papa sprach ernst zu dem Mädchen. Sie würden das Haus mit dem schönen Garten, den Blumen, Büschen und Bäumen verkaufen müssen, da der Papa in einer anderen Stadt, weit entfernt, in einer neuen Firma arbeiten würde. Auch das kleine Mädchen wurde traurig, weil es dieses Haus und den Garten sehr liebte. Bereits die Großeltern hatten hier gelebt und der Garten war auch deren Ein und Alles.





Tage später wurden Kisten sortiert und gepackt. Das Mädchen hielt sich nur noch im Garten auf. Sie sprach mit den Bäumen, sammelte eifrig die Blumensamen und streichelte liebevoll die Rinde am Stamm des großen alten Nussbaums. Als der Umzugswagen gepackt war und die Eltern startbereit nach dem Mädchen riefen, waren so viele Samen gesammelt, dass die große Tüte ganz voll und schwer war. Das Mädchen im Auto sah, wie erst der Garten und das Haus immer kleiner wurden und dann das Dorf  - bis es hinter einer Kurve verschwand.




Die Fahrt dauerte bis zum Abend. Das Mädchen war eingeschlafen und öffnete schlaftrunken und langsam die Augen. Die große Stadt hatte einen ganz anderen Geruch als das Dorf. Es roch trocken, staubig und heiß. Die Wohnung dagegen war hell und  freundlich. Das Kinderzimmer hatte viele Fenster, so wie die gesamten Räume der Wohnung. Während die Eltern und deren Freunde die Kisten ausräumten, füllte das Mädchen die Balkonkästen mit Erde und legte einige Samen hinein. Der Papa schmunzelte und meinte, dass es dafür zu spät wäre und aus den Samen erst im nächsten Jahr Blumen wachsen würden. Aber das Mädchen ließ sich nicht beirren und sprach liebevolle Worte zu den Samen. Am nächsten Morgen wollten die Mama und der Papa ihre Tochter wecken. Im Kinderzimmer nahmen sie einen herrlichen Duft wahr. Lieblich, zart und leicht. Ein Duft, der ihnen bekannt vorkam. Sie weckten ihre Tochter liebevoll. Diese sprang sofort aus dem Bett und lief zum Fenster. Auf den Fensterbrettern standen die Balkonkästen, in deren Erde das Mädchen am Abend zuvor, behutsam die Samen eingebettet hatte. Diese waren voller Blumen in den schönsten Farben und Formen.  Lieblich, zart und feingliedrig.





Die 3 liefen durch alle Räume. Auf allen  Fensterbrettern und auf dem Balkon blühten in den Balkonkästen die Blumen und verströmten diesen wunderbaren Duft. Das Mädchen klatschte vor Freude in die Hände  und die Eltern sprachen von einem Wunder.



Im gleichen Moment saß ein junger Mann in der Straßenbahn, die an diesem Haus vorbeifuhr. Er hatte vor, in zwei Wochen zu heiraten. Seine große  Liebe hatte "Ja" gesagt. Ein Haus mit einem großen Garten hatten sie vor ein paar Monaten auch gekauft. Jedoch der Garten war noch kahl. Einen großen Nussbaum wollten sie haben und bunte  Blumen. Als die Straßenbahn anhielt und die Menschen um ihn herum ein- und ausstiegen, nahm der junge Mann einen aromatischen Duft war. Er atmete tief ein und schloss seine Augen. Wunderschöne Bilder sah er vor sich. Er stieg aus und erblickte das Haus mit den herrlichen Balkonkästen. Vor dem Haus standen bereits einige Leute. Ein Mädchen kam aus der Eingangstür und verteilte etwas. Als das Mädchen vor ihm stand, schenkte sie ihm eine kleine Tüte mit Samen. Ungläubig schaute der junge Mann das glücklich lächelnde Mädchen an und steckte die Tüte ein.




Das Haus des jungen Mannes und seiner Braut stand am Stadtrand an einer Allee mit großen Bäumen. Am Abend gingen die Beiden durch den noch leeren Garten. Er hatte ihr von seinem Erlebnis am Vormittag berichtet; vom Duft und den Farben der Blumen und von dem lächelnden Mädchen. Seine Braut, eine quirlige junge Frau, nahm die Samen in ihre Hände und pustete diese in alle  Richtungen des Gartens. In der Nacht regnete es sanft und als der junge Mann und seine Braut am Morgen erwachten, roch die Luft nicht mehr staubig sondern frisch und klar. Dazu kam ein Duft, der neu war. Sie konnten ihn nicht einordnen und traten hinaus in den Garten.




Der Garten war über Nacht zu einem Paradies geworden. Überall blühte und grünte es. Wunderschöne Blumen und Büsche verströmten einen zauberhaften und betörenden Duft. Und als die Beiden dachten, schöner könne es kaum werden, entdeckten sie neben der Terrasse einen großen Nussbaum. Sein Blätterdach spendete Schatten und in die Rinde am Stamm war ein Herz geritzt. Glücklich umarmte sich das junge Paar und setzte sich unter dem Nussbaum auf eine blaue Decke.








PS: Ich danke Maik, dass ich in seinem herrlich blühenden Garten die Fotos für diese Geschichte machen durfte .... 🌼