Die Geschichte vom kleinen Wassertropfen




Der kleine Wassertropfen dachte nach, wie weit seine Erinnerung zurückreichte. War es gestern oder heute? Es war dunkel und kalt, soviel wusste er noch. Und an ein Rauschen konnte er sich erinnern. Er spürte eine starke Bewegung. Schnell, schneller ging es vorwärts. Er drehte sich bis ihm schwindelig wurde und auf einmal war Licht um ihn herum.

Mit einem Platsch landete er auf einem grünen Blatt. Alles fühlte sich nun anders an, neu. Der kleine Wassertropfen war jetzt allein auf sich gestellt. Und er genoss es. Er fühlte seine glatte Oberfläche und er bemerkte, dass er farblos war, durchsichtig. Das Geräusch des Rasensprengers nicht weit entfernt, ging gleichmäßig mit einem tack tack tack. Überall landeten weitere kleine Wassertropfen.

Das Blatt unter ihm war nicht kalt und auch nicht warm. Aber es war glatt und so rollte der kleine Wassertropfen abwärts. Diesmal bewegte er sich ganz langsam und sacht vorwärts, er rollte bis zum Ende des Blattes. Die Spitze hing hinunter zur Erde. Unter dem Blatt war noch ein Blatt. Und so fiel der kleine Wassertropfen vorsichtig auf das nächste Blatt, von dem er sanft aufgefangen wurde. Mehrfach wiederholte sich dieses sachte Rollen, Fallen und Auffangen.

Das letzte Blatt war an den Seiten etwas gekräuselt und in der Mitte wieder glatt. Der kleine Wassertropfen rollte jetzt nicht mehr, sondern kuschelte sich in der Blattmitte zurecht. Nun betrachtete er neugierig seine Umgebung. Der kleine Wassertropfen sah unter dem Blatt die braune Erde, aus der die Pflanze mit ihren Blättern wuchs. Er sah ringsum zarte rosafarbene und gelbe Blüten, manche waren noch zu Knospen verschlossen und manche reckten sich in ihrer ganzen Pracht der Sonne entgegen.

Das Morgenlicht war zärtlich und streichelte den kleinen Wassertropfen liebevoll. Der fühlte sich geborgen in der Blattmitte. Er beobachtete eine Amsel, die auf dem feuchten Rasen nach Futter suchte. Er sah einen Igel, der müde von der Nacht zu seiner Schlafstelle tippelte und er sah ein rotbraunes Eichhörnchen, das aus einer flachen Wasserschale, die unter einer Rotfichte stand, trank.

Von all den neuen Eindrücken wurde der kleine Wassertropfen müde und er schlief ein. Als er wieder erwachte, staunte er über sich selbst. Es war wärmer geworden. Der kleine Wassertropfen glänzte in der Mittagssonne. Das gefiel ihm sehr. Er drehte sich hin und her und glitzerte in all den Farben, die ihn umgaben - Grün, Braun, Rosa und Gelb. Etwas später spürte der kleine Wassertropfen, wie sich etwas veränderte.

Sanft wurde er von einem Sonnenstrahl emporgehoben, immer höher. Unter dem kleinen Wassertropfen wurde erst das grüne Blatt kleiner, sein kuscheliges Nest. Dann entfernte sich auch die Pflanze immer mehr, der Garten, die Stadt und es ging immer höher hinauf. Der kleine Wassertropfen sah in den Himmel, zu den Wolken und zur Sonne. Etwas Wunderschönes zog ihn in seinen Bann. Da waren Farben in allen Nuancen. Nicht nur Grün, Rosa, Gelb und Braun wie am Vormittag, sondern alle Farben, die man sich nur vorstellen kann. Das kleine Herz des Wassertropfens schlug ganz schnell vor Freude. Der warme, helle Sonnenstrahl setzte ihn behutsam auf dem Rücken des Regenbogens ab. Und hier blieb der kleine Wassertropfen und war glücklich, ohne Zeit und Raum.




...für Jörg's Andrè