Das kleine Buch vom Glück





In einem kleinen Antiquariat packte an einem heißen Sommertag die Inhaberin eine Kiste mit neu erworbenen Büchern aus. Sie stellte ihre neuen Schätze in die Holzregale vor den hell gestrichenen Wänden. Die Räume waren sehr warm obwohl die Markisen auf halbe Höhe heruntergelassen waren. Im Sonnenlicht, das unter den Markisen in das kleine Antiquariat fiel, tanzten feine Staubkörnchen und die Luft roch und schmeckte nach altem Papier.

Helene betrachte das kleine Buch in ihrer Hand. Sie fühlte den weichen flaschengrünen Samteinband des Buches und blätterte kurz hinein. Das Buch hieß "Das kleine Buch vom Glück" und in ihm waren wunderbare Kurzgeschichten niedergeschrieben, die sie innehalten ließen. Helene setzte sich auf die kleine Leiter, las Seite um Seite und vergaß die Zeit. Sie spürte nicht die Hitze und nicht die kleinen Schweißperlen in ihrem Nacken. Das lange rote Haar hatte sie zu einem lockeren Zopf zusammengebunden. Sie war in die Welt des Glücks eingedrungen und ganz erfüllt von den Worten, die sie las.

Die Klingel der Ladentür ließ Helene hochschrecken. Sie klappte das kleine Buch zu und eilte nach vorn zum Ladentisch. Eine ältere Dame, die Helene an ihre Oma erinnerte, suchte nach einem Buch, das sie ihrem Sohn zum Geburtstag schenken wollte. Es sollte etwas Besonderes sein. Helene kam mit der älteren Dame ins Gespräch und da es erst zeitig am Morgen und noch keine weitere Kundschaft im Antiquariat auf der Suche nach alten Büchern war, setzten sich die Beiden an ein Tischchen neben dem Fenster, an dem Helene ihre erste Tasse Kaffee am Morgen zu trinken pflegte.

Die ältere Dame erzählte Helene von ihrer Leidenschaft für alte Bücher, wie sich diese bereits in ihrer Jugend entwickelt hatte und schließlich erzählte sie Helene bei einer Tasse Tee die Geschichte ihres Lebens. Sie musste als junge Frau ihre Heimat verlassen und hatte es nicht immer leicht gehabt. Helene fiel das kleine Buch des Glücks ein und sie überreichte es ihr. Die ältere Dame lächelte und ihre müden Augen strahlten. Als sich die beiden Frauen verschiedener Generationen voneinander verabschiedeten, war es ein Abschied für immer, ohne das sie es wussten.

Viele Jahre später, an einem kalten Januarmorgen, saß Helene an dem kleinen Tischchen am Fenster ihres Antiquariats, trank ihre erste Tasse Kaffee und hatte neben sich zwei Kisten stehen, die darauf warteten, ausgepackt zu werden. Eine Freundin hatte ihr die zwei Kisten voller Bücher aus der Haushaltsauflösung einer Nachbarin überlassen, die allein und in eine kleinere Wohnung umgezogen war. Helene nahm ein Buch nach dem anderen in die Hand, blätterte darin und griff zum nächsten Buch. Dieses war klein, sein Einband aus weichem, flaschengrünen Samt und Helene lächelte, als sie in dem kleinen Buch des Glücks blätterte.

Sie erinnerte sich an die ältere Dame, der sie es vor vielen Jahren an einem heißen Sommertag überlassen hatte. Was wohl aus ihr geworden war? Und während Helene in dem kleinen Buch blätterte, fiel ein Brief aus den Seiten. Ein Brief, der Helene neugierig machte. Die ältere Dame hatte ihn geschrieben - aber nur den Anfang des Briefes, wie sie in den Besitz des kleinen Buches vom Glück in Helenes Antiquariat gekommen war. Als nächstes hatte der Sohn ein paar Zeilen geschrieben, der dieses Buch von seiner Mutter zum Geburtstag bekommen hatte. Die nächsten Zeilen waren, wie Helene feststellte, von einem guten Freund geschrieben, dem dieses Buch zur Geburt seines Sohnes überreicht worden war. Durch viele Hände war das kleine Buch des Glücks gewandert. Die letzten Zeilen hatte die ältere Nachbarin geschrieben, die das kleine Buch vom Glück von einer Freundin aus Kindertagen geschenkt bekommen hatte.

Viele Menschen, die für kurze Zeit Besitzer des kleinen Buches waren, hatten diesen Brief Zeile um Zeile erweitert. Sie hatten vom Glück gekostet, das Glück für eine längere oder kürzere Zeit erlebt und das kleine Buch dann weitergereicht. Helene war gefangen von den Zeilen. Selten hatte sie so etwas Wertvolles in ihren Händen gehalten. Wertvoll auf eine bestimmte Weise. Vor Helene, auf dem Tischchen, lagen der Brief und das kleine Büchlein nebeneinander. Es war ganz still in diesem Moment. Helene nahm einen Stift und beendete diesen Brief. Dann schaute sie aus dem Fenster, auf den verschneiten Park am Ende der Straße, auf die Schneeflocken, die sacht auf die Erde fielen und die Geräusche der Stadt verstummen ließen. Nur die dünne Fensterscheibe trennte die verschneite Stadt vom warmen Antiquariat, in dem es noch immer nach altem Papier roch.

 



PS: So ähnlich wie das Leben der älteren Dame in dieser Geschichte,  war auch das Leben einer mir unbekannten Frau, über die ich aber vieles gehört habe. Deshalb widme ich ihr diese Zeilen und hoffe, sie erfährt an dem Ort, zu dem wir alle irgendwann kommen, jetzt das Glück, welches sie verdient hätte.

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