Die kleine Bar, Jacques und die Frau im roten Kleid


Wer einmal auf dem Eifelturm steht und seinen Blick über die Dächer von Paris schweifen lässt, kann sie von dort oben nicht sehen, die kleine Bar. Diese befindet sich in einer Nebenstraße, die fernab vom Trubel der großen Stadt, an einem kleinen Park endet. Wenn man durch den Park bummelt, kommt man an das Ufer der Seine. In der Abendsonne fallen die Schatten der Bäume direkt durch die Fenster der kleinen Bar. Zwei Fenster säumen die quietschende Eingangstür, drei Stufen über dem Fußweg. Bevor Jacques täglich seine kleine Bar öffnet, bleibt er immer für einen Moment in der Tür stehen. Er hält sein Gesicht in die warme Abendsonne, zählt langsam bis zehn und lässt dann die schwarz/weiß gestreiften halbrunden Markisen hinab. Pfeifend stellt er jeweils zwei Tische mit zwei Stühlen vor jedes Fenster. Bevor er die Rosmarintöpfchen auf die Tische stellt, genießt er deren Duft, und wenn es später langsam dunkel wird, lösen die Windlichter auf den Tischen das Licht der Abendsonne ab.

Die Ausstattung in der kleinen Bar ist weniger modern als gemütlich. Jacques liebt Holz in jeder Form. 
Beim Betreten der kleinen Bar nehmen die Gäste neben dem Geruch von Holz auch hier den Duft von Rosmarin wahr, denn auf den sechs Tischen stehen ebenfalls kleine Rosmarintöpfchen. Zu den sechs Tischen gehören unterschiedliche Stühle, die Jacques auf Flohmärkten gefunden hat. An den Wänden hängen nostalgische Aufnahmen aus dem alten Paris. Auch die Bilderrahmen dazu hat Jacques lange gesucht, sie gehören nicht in die Zeit des Hier und Heute. In den Fenstern stehen alte Weinfässer, die die Gäste gern als zusätzliche Sitzgelegenheit nutzen. Auf dem Tresen, den er aus alten Holzbohlen selbst gebaut hat, steht eine antike Kasse mit einer Handkurbel, auf die er sehr stolz ist. Eine Freundin aus alten Kindertagen hat sie ihm zur Eröffnung der kleinen Bar geschenkt. Bevor die Gäste später ihre Rechnung bezahlen und die Bar wieder verlassen, ertönt ein warmes "Pling" aus der  Kasse.

Seit einigen Wochen betritt neben den Stammgästen jeden Freitag eine fremde Frau die kleine Bar. Sie kommt immer allein und setzt sich an einen der hinteren Tische. Sie ist blass, trägt ihr langes Haar locker zu einem Knoten hochgesteckt und sieht an sich eher unauffällig aus. Einzig ihr Kleid lässt den Blick des Betrachters länger auf ihr ruhen. Es ist rot. Ein enges rotes Kleid mit dünnen Trägern, das jedoch ihre Beine locker umspielt. Dieses Kleid passt auf den ersten Blick so gar nicht zu der jungen Frau und erst recht nicht in die kleine Bar.

Als Jacques heute die quietschende Eingangstür öffnet, sein Gesicht in die warme Abendsonne hält und langsam bis zehn zählt, muss er an die brünette Frau im roten Kleid denken. Heute ist Freitag und er fragt sich, ob sie wieder allein an einem der hinteren Tische ein Glas Wein trinken wird. Die ersten Gäste kommen, es wird erzählt, gelacht und dann quietscht die Eingangstür ein weiteres Mal. Die Frau im roten Kleid schaut sich mit suchendem Blick um und geht an ihren gewohnten Tisch. Jacques streicht sich über seinen weichen Bart, öffnet ohne zu fragen eine bestimmte Flasche Wein und bringt ihr ein Glas. Sie schaut ihn mit großen Augen an und lächelt scheu, denn es ist ihr Lieblingswein, den sie bisher jeden Freitagabend hier getrunken hat.

Als es etliche Male "Pling" an der Kasse gemacht und sich die kleine Bar etwas geleert hat, öffnet sich quietschend die Eingangstür erneut. Ein Mann, den Jacques noch nie gesehen hat, tritt ein und blickt sich suchend um.Jacques erlebt dann etwas, was sein Herz tief berührt. Er sieht wie sich die Frau im roten Kleid langsam erhebt. Ihre blauen Augen haben plötzlich einen ganz besonderen Glanz und ihre Wangen sind errötet. Der fremde Gast und die Frau im roten Kleid gehen aufeinander zu und nehmen sich in die Arme. Und Jacques, der hinter dem Tresen steht, kommt es fast so vor, als bliebe die Zeit für einen Moment stehen. Dann lächelt er, nimmt die Flasche Wein, ein zweites Glas und geht zum Tisch der Beiden. Die Frau ist glücklich und verliebt, stellt Jacques fest, und sie sieht jetzt wunderschön aus, das rote Kleid ist wie für sie gemacht. Und sie passt mit dem roten Kleid und ihrem Lächeln perfekt in die kleine Bar. Später an diesem Abend, als draußen die alten Laternen leuchten und sich die kleine Bar geleert hat, sitzen im Kerzenschein dort nur noch der Mann, die Frau und Jacques. Und dann erzählen sie Jacques ihre Geschichte, die Geschichte einer großen Liebe  .... 



PS: Für A., dem ich wünsche, dass eines Tages sein Traum von einer solchen Bar in Erfüllung geht. Ich wäre dann gern bei der Eröffnung dabei.