Ein Weihnachtsmärchen für Frauen





Der Sommer in diesem Jahr war warm, so wie Helene es mochte und er schien kein Ende nehmen zu wollen. Dadurch kam es ihr vor, als hätte der Herbst erst begonnen. Doch ein Blick auf den Kalender verriet ihr, dass die Weihnachtszeit kurz bevor stand.

Die Frau, die ihr im Vorbeigehen aus dem Spiegel an der Garderobe entgegenblickte, sah müde aus. Das lange rote Haar war zu einem lockeren Zopf zusammengebunden und die grünen Augen hatten Schatten unter den Wimpern. Ada und Albert, ihre neunjährigen Zwillinge, hatten erst vor zwei Wochen Geburtstag. Das erschwerte die Suche nach passenden Weihnachtsgeschenken. Auf Julian konnte sie nicht zählen, er machte täglich Überstunden im Büro. Das Projekt, an dem er mit seinen Kollegen arbeitete, musste zum Jahresende fertig sein.

Als Ada und Albert ein paar Tage später abends in ihren Bettchen lagen und sie die Küche aufgeräumt hatte, kuschelte sich Helene mit ihrer weichen Lieblingsdecke auf das Sofa. Sie notierte alles Wichtige, woran sie bis Heiligabend noch denken musste, auf eine Liste.

Zuerst überlegte sich Helene die Weihnachtsgeschenke für ihre Lieben. Für Julian wollte sie Karten für ein Krimi Dinner besorgen. Ada wünschte sich Schlittschuhe und Ohrringe. In den Weihnachtsferien würde sie mit ihrer Tochter zum Ohrlochstechen gehen. Für Albert hatte sie bereits Karten für ein Fußballspiel seines Lieblingsfußballclubs in München bestellt und ein Buch über die Elbaue, da er die Natur sehr liebte.

Langsam füllte sich die Liste mit Ideen für ihre Schwester Valerie, für die Eltern, Schwiegereltern, die Omas und Opas, die Geschwister, Nichten und Neffen. Auf die Rückseite der Liste kam der Menüvorschlag für das Weihnachtsessen. Viele Jahre war es bereits Tradition, dass das Fest mit der ganzen Familie in jedem Jahr abwechselnd bei einem anderen Teil der Familie ausgerichtet wurde. In diesem Jahr nun kamen alle zu Helene. Als sie langsam müde würde, legte sie den Stift und die Liste auf den Couchtisch.

Helene wurde wach, weil Julian ihr sanft über die Wange streichelte. Er setzte sich zu ihr auf das Sofa, gab ihr einen sanften Kuss und sie sprachen über den Tag, über Ada und Albert. Helene räumte später den Tisch ab und wunderte sich noch, dass ihre Liste nicht mehr dort lag. Aber vielleicht hatte Julian sie zur Seite gelegt.

Das Weihnachtsfest fiel in diesem Jahr auf ein Wochenende; die Zeit wurde knapp, denn Helene musste bis zum 23. Dezember arbeiten. In drei Tagen war es soweit. Helene machte im Kaufhaus die letzten Besorgungen. Ada und Albert waren seit Schulschluss mit den Großeltern auf dem Weihnachtsmarkt. Während sie an der Kasse stand, schloss Helene die Augen. Sie musste Julian unbedingt nach der Liste fragen. Morgen würde sie nach der Arbeit die Wohnung putzen, die Geschenke einpacken und am Tag darauf den Einkauf erledigen.

Doch dazu sollte es nicht kommen. Helene saß im Auto; sie hatte Ada und Albert von den Großeltern abgeholt und war auf dem Heimweg. Die Zwillinge hinter ihr erzählten lauthals und vor allem gleichzeitig vom Weihnachtsmarkt. Im Autoradio dudelte eine Weihnachts-CD und sie dachte an den Einkauf der vielen Lebensmittel, den sie noch erledigen wollte. Auch den bestellten Weihnachtsbaum musste sie morgen abholen. Inzwischen hatte Schneetreiben eingesetzt und sie freute sich auf eine Tasse Kaffee zu Hause.

Der Geruch im Treppenhaus war süß, aromatisch und erinnerte Helene an die leckeren Weihnachtsplätzchen, die sie als Kind mit ihrer Mutti und Omi gebacken hatte. Auf dem Abtreter vor der Wohnungstür wunderte sie sich über herumliegende Tannennadeln. Hatte Julian bereits den Weihnachtsbaum besorgt? Die Kinder stürmten an ihr vorbei, schleuderten im Flur die Stiefel von ihren Füssen und verschwanden im Kinderzimmer.

Und während Helene noch über die Plätzchen und die Tannennadeln nachdachte, wurden ihre Augen immer grösser. Im Wohnzimmer stand ein Weihnachtsbaum und ihre Weihnachtsliste lag auf dem Küchentisch. Hinter jedem Stichpunkt auf der Liste war ein Haken. Vorsichtig öffnete Helene den Kühlschrank und anschließend die Vorratskammer. Beide waren prall gefüllt mit Lebensmitteln und Konserven. Helene ging staunend ins Wohnzimmer zum Weihnachtsbaum. Neben dem Baum stand der Karton mit den Weihnachtskugeln und den Kerzen. An einem Zweig steckte ein Umschlag. Sie öffnete ihn und las folgende Zeilen: 

"LIEBE HELENE,

DU HAST IN ALL DEM WEIHNACHTSTRUBEL GANZ DAS KIND IN DIR VERGESSEN. HAT DICH DER DUFT DER WEIHNACHTSPLÄTZCHEN AN DEINE BEHÜTETE KINDHEIT ERINNERT? AN DIE UNBESCHWERTE ZEIT VOLLER VORFREUDE AUF DAS WEIHNACHTSFEST, AN DAS PLÄTZCHENBACKEN MIT DER FAMILIE, AN DEN BUNTEN TELLER UNTER DEM GESCHMÜCKTEN WEIHNACHTSBAUM, AN DIE GESCHICHTE, DIE ICH DIR JEDES JAHR AM HEILIGEN ABEND VORGELESEN HABE, AN DEN ERSTEN SCHNEE UND AN DEINEN TREUEN GEFÄHRTEN - EUREN COCKERSPANIEL JUSSI? ICH HABE ETWAS NACHGEHOLFEN, DASS DU DICH ERINNERST. DIE KEKSDOSE STEHT AUF DEM ESSTISCH. ICH SCHENKE DIR MIT DIESEM DUFT NUN WUNDERVOLLE ERINNERUNGEN AN DEINE KINDHEIT UND ICH SCHENKE DIR BIS ZUM FEST DIE ZEIT, DIESE ERINNERUNGEN ZU GENIESSEN. WENN DU MORGEN FRÜH ERWACHST, WIRD ALLES FERTIG SEIN. DANN STRAHLT AUCH DER TANNENBAUM MIT SEINEN KERZEN UND DEN ROTEN KUGELN IM WARMEN LICHT. ÜBRIGENS HABE ICH BEREITS ALLE GESCHENKE VERPACKT, DIE DU FÜR DEINE LIEBEN BESORGT HAST, SIE LIEGEN IN DEINEM KLEIDERSCHRANK HINTER DEINEN WINTERJACKEN. NUN MACH ES DIR MIT DEINEN KINDERN GEMÜTLICH, NASCHT DIE LECKEREN WEIHNACHTSPLÄTZCHEN UND LASS ADA UND ALBERT AN DEINEN ERINNERUNGEN TEILHABEN. ICH WÜNSCHE DIR EIN FROHES WEIHNACHTSFEST. 

ES GRÜSST DICH GANZ LIEB DER WEIHNACHTSMANN"





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