Ein Klassentreffen, das für sie nicht stattfindet




Seit Wochen hat es kaum geregnet. Und wenn ein paar Tropfen fielen, war dies für die Natur ohne große Wirkung. Die grüne Elbaue wird langsam braun und auf den Elbwiesen ist es kaum noch möglich, barfuß zu gehen. Trocken und hart sind die Wiesen und Wege. Der Sandweg ist rissig und sie bleibt mit dem Absatz ihrer Sandalette stecken. Das steigert ihren Unmut noch mehr.

Die Tränen hinterlassen durch die Wimperntusche kleine schwarze Bäche auf ihren Wangen und ihre Lippen schmecken salzig. Sie haben wieder einmal gestritten, weil sie nicht rechtzeitig fertig geworden war. Er ist dann ohne sie vorgefahren. Sie hat sich auf ihr Fahrrad gesetzt, um ihm zum Klassentreffen nachzufahren.

Unterwegs ist jedoch die Kette von ihrem Fahrrad gerissen und sie ist gestürzt. Das rechte Knie ist aufgeschlagen und die rechte Schulter tut ihr weh. Missmutig schiebt sie ihr Fahrrad neben sich her. Sie ist unsicher, ob sie zurücklaufen oder das Rad noch bis zum Gasthaus schieben soll. Die Wut in ihrem Bauch wird mit jedem Schritt größer. Warum hat er nicht gewartet?

Dieses ständige Streiten, weil sie zu langsam und dadurch nie pünktlich ist. Während sie wütend vor sich hinstapft, hört sie Stimmen. Sie sieht am Ufer ein Auto und ein kleines Boot. Es ist an einer alten knorrigen Weide festgemacht. Die Stimmen sind laut und  die gesprochenen Worte klingen überhaupt nicht freundlich. Überall wird nur gestritten, denkt sie noch, bevor sie erkennt, in welche Situation sie geraten ist. 


Instinktiv bleibt sie stehen, lässt das Fahrrad fallen und humpelt hinter eine der vielen alten, knorrigen Weiden. Die drei Männer sind mit dem Auto bis an das Elbufer herangefahren. Da es schon so lange trocken ist, führt die Elbe Niedrigwasser. Sie beobachtet, wie die Männer zu dritt versuchen zwei Fässer zu versenken.

Mit der Hand vor dem Mund hält den Atem an und als sie zurück schleicht, knacken trockene Äste unter ihren Füßen. Die Männer blicken in ihre Richtung. Während sie überlegt, wohin sie mit ihrem ramponierten Knie fliehen kann, kommen zwei Männer auf sie zu. Sie teilen sich auf und kommen von zwei Seiten .

Ihr bleibt nur der Weg durch die Elbe. Das Letzte woran sie denkt, ist das die Elbe nur wenig Wasser führt. Dann humpelt sie los. Das Wasser ist kalt. Bis zur Fahrrinne kommt sie noch langsam gehend vorwärts. Dann muss sie schwimmen. Ihre rechte Schulter schmerzt und die Strömung zieht sie mit sich.

Sie hält den Kopf über Wasser und lässt sich treiben. Irgendwann schafft sie es an das andere Ufer. Inzwischen ist es dunkel geworden. Das nasse Kleid klebt an ihrem Körper. Sie hat einen Schuh verloren und lauscht angestrengt in die Stille. Im Mondlicht versucht sie zu erkennen, ob die Männer noch zu sehen sind.


Sie lehnt sich erschöpft an den Stamm einer Weide. Es ist still, die Rufe der drei Männer sind verhallt und sie atmet tief ein, während sie sich das lange nasse Haar aus dem Gesicht streicht. Dann hört sie in der Ferne ein Auto starten.

Langsam bewegen sich die Scheinwerfer am Ufer auf dem Feldweg entlang. Da stellt sie fest, wie weit sie in der Elbe vom anderen Ufer in westliche Richtung weggetrieben wurde. Die Strömung ist nicht zu unterschätzen. Sie schließt die Augen. Wäre nur nicht dieser dumme Streit gewesen.

Dann muss sie  eingenickt sein, denn als sie hochschreckt, hört sie ein Knacken. Es ist monoton und sofort stellen sich ihre Nackenhaare auf. Ihr Herz schlägt schneller und sie wagt kaum zu atmen. Leise plätschert es unweit von ihr. Für einen Moment lächelt sie, als sie einen dicken Biber, dessen nasses Fell im Mondlicht glänzt, vor sich sieht.

Sie beobachtet das Tier eine Weile und überlegt, was sie nun machen soll. Zurück durch die Elbe schwimmen oder auf dieser  Elbseite warten? Worauf?  Auf ihn? Er weiß ja gar nicht, dass sie hier ist. Ob er sie vermisst?

Dieser dumme Streit. Ständig liegen sie sich in den Haaren, weil sie sich für alles zu viel Zeit nimmt und ihm im Gegenzug alles flott von der Hand geht. Als sie daran denkt ihn anzurufen, stellt sie fest, dass ihr Handy in ihrer Tasche ist, die noch im Fahrradkorb liegt. Sie lässt den Gedanken freien Lauf, denkt an ihre Kindheit, ihre Jugend, die Familie und wie sie ihn vor zwei Jahren kennengelernt hat. Vor drei Monaten sind sie in das kleine Haus am Ende des Dorfes gezogen. 

Die Gedanken ziehen zu lassen, hat sie schon immer beruhigt. Das Plätschern der Wellen ist ruhig, fast als ob die Wellen ihr etwas zuflüstern, ihren Namen flüstern. Ihren Namen, der immer lauter wird. Aus dem Flüstern wird ein Rufen - und sie erkennt seine  Stimme. Die Dämmerung hat eingesetzt. Sie steht auf und humpelt an das nahe Ufer. 

Als sie ihn erkennt, winkt sie zur anderen Elbseite. Er hat sie also doch gesucht. Er ist gekommen und hat sie gefunden. Sie stehen sich gegenüber und nur die Elbe trennt das Paar. Ihr fällt plötzlich etwas ein und sie ruft ihm zu, ob das Boot noch an der alten Weide angebunden ist. Wenig später kommt er angerudert.

Er schaut sie fragend an und rudert gegen die Strömung flussaufwärts zurück, während sie ihm alles erzählt. Ungläubig schüttelt er seinen Kopf. Er hatte sie  telefonisch nicht erreichen können und gedacht, sie wäre nach dem Streit lieber zu Hause geblieben. Auf dem Heimweg hatte er ihr Fahrrad mit ihrer Handtasche gesehen.

Sie stellen ihre Fahrräder etwas weiter an einem Baum ab und lassen sich von einem Freund abholen. Der Weg wäre mit ihrem verletzten Knie zu weit zum Laufen. Sie versucht unter der heißen Dusche ihre  Muskeln zu entspannen und fällt danach sofort in ihr Bett.

Als der Wecker am Morgen klingelt, streckt sie sich. Sie sieht auf ihr gesundes rechtes Knie, berührt die unverletzte rechte Schulter und ist froh, dies alles nur geträumt zu haben. Sie dreht sich zu ihm,  weckt ihn und erzählt nachdenklich von ihrem Traum. 




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