Die unbekannte Frau


Anfangs stand ich noch allein am Bahnsteig; das Taxi war schneller als erwartet durch den morgendlichen Verkehr gekommen. Den kräftigen Händeduck des freundlichen Taxifahrers spürte ich noch immer, als ich mit meinem Koffer auf der Rolltreppe stand.

Langsam füllte sich der Bahnsteig. Mein Zug nach Hannover war bereits angekündigt und würde in wenigen Minuten einfahren. Plötzlich stand sie da und lächelte. Uns trennten ungefähr dreißig Meter. Die Unbekannte hatte zwei Koffer bei sich und darauf mehrere Taschen. Sicher auch Kurgast, dachte ich.

Mein Blick blieb an ihren vielen, langen Perlenketten hängen. Sie trug eine helle Bluse zu einer modernen Jeans, dazu dunkelbraune Sneakers und als Jacke eine dünne lange pinkfarbene Bluse. Wie ein farbiger Tupfer stand sie auf dem grauen Bahnsteig.

Der Zug fuhr ein, ich fand einen Sitzplatz für mich und genügend Raum für meinen Rollkoffer. Während ich zum wiederholten Mal in meiner Handtasche nachschaute, ob ich auch wirklich das Zugticket  griffbereit hatte, fragte mich eine warme Stimme, ob der Platz neben mir noch frei wäre. Als ich hochschaute, blickte ich in zwei himmelblaue Augen und das schmale Gesicht der unbekannten Frau.

Sie sah zwar erholt aus und hatte sonnengebräunte Haut aber die Schatten unter ihren Augen sprachen eine andere Sprache. Die Art wie sie lachte und sich immer wieder mit den Fingern durch ihr blondes Haar fuhr, das ihr locker bis über die Schultern fiel, verlieh ihr eine mädchenhafte Aura. Ich schätzte sie auf Ende fünfzig, Anfang sechzig. Mein Interesse an dieser Frau war geweckt, spätestens, als ich den glitzernden Buchstaben "M" sah, der auf ihre Handtasche aufgenäht war.

Schnell kamen wir ins Gespräch und hörten erst auf zu erzählen, als wir in Hannover ausstiegen. Sie erzählte mir von ihrer Auszeit vor ein paar Jahren in Spanien und, dass sie noch nie Stillstand im Leben mochte. Ich spürte ihren Hunger nach mehr, nach Leben.  Und dann wusste ich, an wen sie mich erinnerte - an eine Sängerin, die in den Neunzigern mit ihrem Sommerhit lange im Radio zu hören war. Ich hatte dazu so manches Mal getanzt. Leider verpasste ich es, sie nach ihrem Namen zu fragen und tippe im Nachhinein wegen des glitzernden "M" auf Meike.

Da ihr ICE nach Hamburg erst in einer Stunde fahren würde und mein ICE nach Berlin fünfzig Minuten Verspätung hatte, zogen wir unsere Koffer zur Rolltreppe und tranken bei Tchibo noch einen Kaffee zusammen.

Als wir uns später voneinander verabschiedeten, war mir, als würden wir uns schon lange kennen. Manchmal kreuzen Menschen unser Leben, die schon nach kurzer Zeit Spuren hinterlassen.


Ende

Kommentare

  1. Die schönsten Geschichten schreibt das Leben, eine wunderbare Begegnung die Dir lange Erhalten bleibt.

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen